Die Staatstheater Darmstadt und Wiesbaden zeigen in Darmstadt mit dem Programm „Aufwind“ die ersten Choreographien ihres gemeinsamen Tanztheaters.
Man war gespannt in Darmstadt am Abend des 17. Oktober. Zum ersten Mal würde die neu gebildete Tanztheater-Truppe der beiden benachbarten Hessischen Staatstheater zeigen, was sie leisten kann. Bis zum Ende der letzten Saison leistete sich jedes Theater sein eigenes Tanztheater, und es stellte sich natürlich die Frage, wie so eine Kooperation bei einer Entfernung von fast fünfzig Kilometern funktionieren kann.
Um die Frage gleich zu beantworten: es funktioniert ausgezeichnet, denn dem Publikum präsentierte sich eine hoch motivierte, perfekt aufeinander abgestimmte Truppe, die sich bereits mit dem ersten Abend in die Herzen der Zuschauer tanzte.
Drei Choreographen prägten das Programm mit deutlich kontrastierenden Produktionen. Am Anfang stand der „Haus-Choreograph“ und Leiter des Tanztheaters, Tim Plegge, mit der Uraufführung seiner logisch korrekten Choreographie „Vom Anfang“. Dann folgte der Amerikaner Richard Siegal mit „Liedgut“ – ebenfalls eine Uraufführung -, und den Schluss bildete der Schwede Alexander Ekman mit „Left Right Left Right“.
Bei Tim Plegges „Vom Anfang“ spielt die Musik eine zentrale Rolle. Sie ist nicht nur Taktgeber für die Tänzer, sondern setzt den gesamten Rahmen für die Choreographie. Im Zentrum steht Kammermusik von Robert Schumann und Franz Schubert, flankiert von deren modernen Kollegen György Kurtág und Lera Auerbach. Vor allem Schumanns Musik zeichnet sich durch außerordentliche seelische Tiefe aus. Wer sich in seine Musik vertieft, kann dort verloren gehen. Wehmut reicht nicht als Bezeichnung, Schwermut und die Suche nach Erlösung treffen es eher. Schumann zerreißt sich förmlich in jedem seiner kammermusikalischen Stücke, ohne dass die Musik deshalb grell oder dissonant klingt.
Diese den Zuhörer in die fragile Zwischenwelt des fragenden und (an sich) zweifelnden Menschen ziehende Musik bildet die Grundlage für die Choreographie. Plegge stellt den „Anfang“ als Begriff in den Vordergrund. In Abwandlung eines berühmten Zitates könnte man sagen, dass allem Anfang der Zauber des Scheiterns innewohnt. Dabei geht es um die Gefahr des Scheiterns menschlicher Beziehungen, die am Anfang stets offen sind und alles ermöglichen, sich jedoch oft enttäuschend entwickeln. Erwartungen werden nicht erfüllt, oft gerade deswegen, weil Angst, Skepsis oder Abwehr mitspielen. Ein Mann umwirbt eine Frau und erlebt nur spröde Abweisung. An anderer Stelle verfolgt eine ganze Gruppe von Männern eine Frau und setzt ihr schwer zu. Bei diesen Szenen kommt deutlich die Schwierigkeit zum Ausdruck, eine Beziehung aufzubauen und sie zu erhalten. Als ein Zeichen der Sehnsucht nach einer gelungenen Beziehung hält eine einzelne Tänzerin zu Beginn über eine längere Passage einen Luftballon an einem Band fest und schaut zu ihm auf, während die anderen Tänzer und Tänzerinnen einzeln, paarweise und in Formationen das Thema des Anfangs von menschlichen Beziehungen durchexerzieren. Dabei folgen sie dem Duktus der mal lyrischen, dann wieder zerrissenen Musik aufmerksam, ohne die einzelnen Takte sklavisch nachzutanzen. Wie eine Oase der Ruhe wirkt das Zwischenspiel von Franz Schuberts zweitem Satz (Andante) aus der Klaviersonate A-Dur, D 959. Hier wandelt sich Schumanns seelische Zerrissenheit zu einer sehnsüchtigen Wehmut, gemischt mit Entsagung. Zu Schuberts Musik tanzt erst ein Paar, dann ein zweites, Zeichen für die Sehnsucht nach einer gelungenen Zweierbeziehung. Wenn das Paar am Ende über die schräge Rampe nach hinten ins Off springt, kann man das als Sprung ins Glück oder in den Tod verstehen. Die Ambivalenz ist wohl beabsichtigt und überlässt dem zuschauer die Interpretation. Als Gegenstück zu Schuberts Sehnsucht und zu Schumanns Zerrissenheit stehen die Einsprengsel der modernen Musik für die kalte Einsamkeit der heutigen Menschen.
Richard Siegal hat mit seiner Produktion „Liedgut“ sicher eine originelle Idee verfolgt. Bei ihm steht der moderne Mensch als Maschine im Vordergrund. Dazu hat er eine große Lichtstele in die Mitte der Bühne stellen lassen, die ein wenig an Kubricks Film „2001“ erinnert. Auf dieser Stele werden abwechselnd „weißes Rauschen“ – etwa wie bei einem Fernseher ohne Programm – oder Signale dargestellt. Die können aus Wellenlinien wie auf einem Oszillographen – natürlich der Intensität der Musik folgend – oder als Buchstaben wie auf einem Computerbildschirm bestehen. Das Ganze ist akustisch mit verzerrten Tonsignalen – Rauschen, verzerrte menschliche Stimmen oder Musik – unterlegt. Wenn die Stele sich nach gefühlten Minuten hebt und in der Luft langsam dreht, kommen unter ihr die Tänzer und Tänzerinnen zum Vorschein. Sie tanzen anfangs in weißen, lack-glänzenden Kostümen auf. Später, zu invertierten Signalen auf der Stele – Weiß wird Schwarz und Schwarz wird Weiß – treten sie dann in schwarzen Kostümen auf. Man kann dieses Wechselspiel zwischen Weiß und Schwarz natürlich mythologisch oder moralisch deuten, doch die Tanzfiguren geben zu solchen Spekulationen keinen Anlass. Zu Techno-Sounds aus elektronischen Quellen tanzt die Truppe vor allem Formationen. Eine Geschichte wird nicht erzählt, denn die Botschaft lautet: mit der Mutation des Menschen zur Maschine ist das Ende der Geschichte erreicht. Auch das nur eine Spekulation, die sich zwar anbietet aber nicht aufdrängt.
Diese Choreographie litt allerdings stark darunter, dass sowohl das LED-Licht der Stele als auch der Ton dazu das Geschehen zu stark dominierten. Die Tänzer waren über ganze Strecken optisch kaum auszumachen oder führten im grellen Licht der Stele ein Schattendasein. Nach einiger Zeit drängte sich die Vorstellung auf, dass die hier gebotene Show von „Son et Lumière“ zum Selbstzweck mutierte und den Tanz zur Randerscheinung degradierte. Ob das Ganze so beabsichtigt war oder auf einem technischen Fehler beruhte, wie später erklärt wurde, sei dahingestellt. Auf jeden Fall schränkte diese Dominanz von Licht und Ton die Wirkung stark ein.
Dramaturgisch klug hatte man die witzigste Choreographie an den Schluss gestellt. Wer am Ende lacht, ist versöhnt mit eventuellen vorherigen Enttäuschungen. Alexander Ekmans „Left Right Left Right“ wurde am 12. Februar vom Nederlands Dans Theater uraufgeführt und erlebte hier seine erste deutsche Aufführung. Die Musik stammt von Mikael Karlsson, ist aber in der Tat über weite Strecken die freie Bearbeitung der „Pizzicato Polka“ von Johann Strauss. Das Stück beginnt in totaler Erstarrung zu einigen kurzen Akkorden der Musik. Die Tänzer in ihren grauen Anzügen, die einerseits an das Stereotyp des Büromenschen und andererseits an die chinesische Einheitskluft unter Mao erinnern, schauen mit düpierten Gesichtern ins Publikum. Dann kommt abrupt für wenige Sekunden hektische Bewegung in die Truppe, um gleich wieder zu erstarren. Das wiederholt sich mehrere Male mit verschiedenen Bewegungsmustern. Das Ganze wirkt wie eine organisierte Masse Mensch – daher die Assoziation an chinesische Massenorganisationen. Im weiteren Verlauf werden die Varianten menschlicher Fortbewegung konsequent durchgespielt. Man läuft, man springt, man kriecht, man schiebt, man schubst und man marschiert. Das Ganze immer in mehr oder minder geordneten Gruppen und erstaunten oder verblüfften Gesichtszügen. Alexander Ekman reizt die Möglichkeiten des Slapsticks voll aus, ohne dabei in Klamauk zu verfallen. Das Ganze ist witzig, dynamisch und „abgefahren“, wie es heute so schön heißt, aber nie platt. Dafür sorgen schon die sorgfältig einstudierten Bewegungsmuster, die nur dilettantisch oder tolpatschig aussehen, es aber nie sind. Ein besonderer Gag sind dabei die Laufbänder, auf denen die Tänzer wahre Kunststücke des Laufens, Springens und anderer Körperhaltungen vollbringen. Die Assoziation an ein Fitness-Studio wird allerdings schnell durch die akrobatischen Leistungen ad absurdum geführt.
Den Höhepunkt dieser Choreographie bildet dann ein längerer Videoclip in voller Bühnenhöhe und -breite, der zeigt, wie die Tanztheatertruppe ihre Übungen für diesen Auftritt einzeln oder in Gruppen in der Darmstädter und Wiesbadener Öffentlichkeit absolvierten – zum Erstaunen der Passanten. Da wuselten sie um den weißen Turm oder auf den Treppen des Landesmuseums, schlugen Rad auf dem Luisenplatz oder schlängelten sich in absurden Bewegungsmustern über den Friedensplatz. Für Wiesbaden gilt vice versa das Gleiche, nur kennt der Rezensent nicht alle versteckten Örtlichkeiten der Stadt. Die neuen Intendanten beider Theater haben hier ihre Absicht, sich mehr der Bevölkerung zu präsentieren, auf erfrischende Weise konkret umgesetzt. Dieser Videoclip – an sich keine Neuigkeit im Theatergeschehen – hat wegen des direkten Bezugs zur Choreographie und wegen der Einbindung der lokalen Umgebung einen besonderen Reiz. Versteht sich, dass nach dem Video wieder die Tanztruppe die Bühne übernahm und noch einmal alle Register zog, um körperliche Hochleistung mit Witz und Slapstick zu vereinen. Das Publikum hatte viel Anlass zum Lachen und tat dies auch mit Lust und Ausdauer.
Am Ende gab es für alle lange anhaltenden Beifall, der sich bei der ausführlichen Würdigung aller Beteiligten durch die beiden Intendanten noch einmal wiederholte.
Frank Raudszus
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