Bulgakows „Der Meister und Margarita“ in der Berliner Volksbühne.
Für Theatermacher stellt die szenische Darstellung großer epischer Werke der Weltliteratur immer wieder eine Herausforderung dar, gewähren doch gerade sie ihnen die Freiheitsgrade, über die sie in den Theater- stücken wegen der bereits für die Bühne vorgefertigten Dialoge und Szenen nur in begrenztem Maße verfügen. Romane jedoch bergen einen weit umfangreicheren Schatz an Symbolen, Strömungen und Facetten, die es in einer Bühnenfassung adäquat herauszuarbeiten gilt. Die Schwierigkeit liegt jedoch darin, aus einem epischen Stoff eine zeitlich begrenzte, in sich geschlossene und homogene Handlung zu destillieren, die einerseits nicht nur im Deklamieren von Texten sich erschöpft und andererseits nicht eine eventuell nur vordergründige Handlung des Romans in den Mittelpunkt stellt. Versuche, Romane wie Joyces „Ulysses“ oder Musils „Mann ohne Eigenschaften“ für die Bühne zu berabeiten, sind deswegen in den Anfängen stecken geblieben.
Frank Castorf, Regisseur an der Berliner „Volksbühne“ und in gewisser Weise „enfant terrible“ der Branche, hat nun Michail Bulgakows Ende der zwanziger Jahre erschienenen Roman „Der Meister und Margarita“ inszeniert. Zum Verständnis dieses Werkes ist ein kurzer Exkurs in die damalige Sowjetunion nötig, die sich durch Stalin zu einem perfekten Überwachungsstaat entwickelt hatte und deren geradezu irrationale und dabei unheimlich konsequente Bürokratie das Land zu einer riesigen Groteske erstarren ließ. Man muss ferner wissen, dass die Bevölkerung und mit ihr auch Bulgakow nicht Stalin für den Schuldigen an den Zuständen im Lande hielten, sondern eben diese Bürokraten. Wenn Stalin von deren Treiben erführe, würde er die Missstände umgehend abstellen….
Soweit der historische Hintergrund des Romans. Dieser beginnt mit dem atheistisch geprägten Gespräch des Lyrikers Besdomny und des Redakteurs Berlioz über die Frage der Existenz Jesus und der Art dieses Wanderpredigers, wenn er denn tatsächlich gelebt haben sollte. Ein Ausländer mischt sich nicht nur in das Gespräch ein und behauptet, er selbst habe Jesus im Gespräch mit Pontius Pilatus erlebt und habe außerdem mit Immanuel Kant über philosophische Fragen diskutiert, sondern prophezeit auch dem Redakteur seinen unmittelbar bevorstehenden Tod durch die Straßenbahn. Als diese Prophezeiung kurz danach exakt wie vorausgesagt eintrifft, meldet Besdomny diesen fürchterlichen Fremden, den er für einen Spitzel hält, bei den Behörden, die ihn umgehend wegen offenkundiger geistiger Verwirrung in eine Irrenanstalt einweisen. Einmal hier eingewiesen ist ein Entkommen so gut wie unmöglich. Zwar gewährt ihm der Direktor der Anstalt die Entlassung, sagt ihm jedoch seine umgehende Wiedereinlieferung voraus, wenn er seine Geschichte über den das Unglück prophezeienden und angeblich zweitausend Jahre alten Fremden wieder den Behörden vorträgt.
Der kundige Leser weiß es und andere ahnen es: der Fremde ist niemand anders als der Teufel selbst, der durch die Jahrhunderte eilt und sich jetzt daran macht, die erstarrte Sowjetunion „aufzumischen“. In der Folge teilt sich der Roman in mehrere Erzählstränge. Da ist einmal der unglückliche Besdomny, der in der Nervenanstalt einen Schriftsteller, den „Meister“ trifft, der von dem ultimativen Roman und von seiner Geliebten Margarita träumt und erzählt. Im zweiten Strang treibt der Teufel mit dem Namen Voland zusammen mit seinen merkwürdigen Gesellen sein magisches Unwesen in Moskau, „beamt“ den Direktor der Anstalt in Sekunden zweitausend Meilen weiter nach Jalta, lässt andere unsympathische Menschen verschwinden und veranstaltet einen magischen Ball, bei dem er alle Teilnehmer verhext. Der dritte Erzählstrang schließlich führt zweitausend Jahre zurück zu einem fiktiven Gespräch zwischen Pontius Pilatus und Jeschua Hanosri (Jesus), das sich eher geschäftsmäßig und hemdsärmelig zwischen einem desillusionierten Machtmenschen und einem engagierten und halb verzweifelten Philosophen abspielt.
Im weiteren Verlauf entwickeln sich alle drei Erzählebenen weiter. Margarita taucht auf und findet einen mittlerweile von den Zuständen zerstörten und orientierungslosen „Meister“ vor. Der Teufel zieht seine zynische und doch so treffsichere Spur durch Moskau und die Lebensumstände der Protagonisten, und Jeschua schließlich wird gegen den Rat des Pilatus von den Hohepriestern dem Tod überantwortet. Am Ende bleibt offen, ob sich der Meister und Margarita in einer normalen Existenz wieder finden, was mit der vom Teufel durcheinander gewirbelten Moskauer Gesellschaft geschieht und wie die jüdische Gesellschaft und vor allem Judas mit der Kreuzigung des Jeschua fertig werden. Bulgakow, der 1940 – eines natürlichen Todes – starb, ohne den Roman veröffentlichen zu können, fand keine glückliche Lösung, da Stalin in seiner Realität die korrupte Bürokratie (noch) nicht entlarvt hatte. So muss das böse Spiel bis zu einer späteren Erlösung weiter gehen. Neben seiner religiösen Seite, die in einem bewusst atheistischen Staat schon einen Affront dargestellt hätte, präsentiert sich der Teufel hier als das Element einer anderen Realität, die den Scheincharakter der vorgeblichen Realität des realen Sozialismus´ der zwanziger Jahre aufbricht und „ad absurdum“ führt. In den Szenen um Jesus thematisiert Bulgakow das Aufeinandertreffen des großen Machtmenschen (Pilatus/ Stalin) mit dem großen Denker (Jeschua/ Bulgakow), das nie zu einer Synthese führt aber zur Verunsicherung und zur Sehnsucht des Mächtigen nach der Heilung durch den Denker.
Diesen äußerst vielschichtigen Komplex von Bildern und Symbolen hat Frank Castorf in einen kompromisslosen Rahmen mit scharfen Konturen gefasst. Das politische Ambiente des frühen sowjetischen Sozialismus spart er aus und setzt dagegen die Umgebung eines Berliner Sex-Kinos, in dem sich die Protagonisten zu Beginn treffen. Man spricht unverfälschten Berliner Dialekt – außer dem (ausländischen) Teufel und seiner Bagage. Das erwähnte Etablissement ist als ein großer Glaskasten aufgebaut, aus dem die Darsteller wie aus einem Gefängnis heraus sprechen. Die historischen Ereignisse um Jeschua werden als Video über dem Glaskasten abgespielt, offensichtlich zu einem früheren Zeitpunkt auf der selben Bühne gedreht. Weitere Szenen der „zeitgenössischen“ Handlung werden in Hinterzimmern gespielt, wie sich auch im Sozialismus der Sowjetunion die wesentlichen Dinge im Geheimen abspielten. Diese Vorgänge, weitgehend die Abläufe innerhalb der Nervenklinik, werden „Live“ mit der Videokamera aufgezeichnet und dem Publikum präsentiert. Dabei geht es dann existenziell an die Substanz: die dargestellten Verhaltenweise erinnern an die Verwirrung geistig Kranker und gerinnen in ihrer schonungslosen Darstellung zu einer Entlarvung einer Gesellschaft, in der nichts mehr stimmt. Andere Szenen erscheinen als gleichzeitig gedrehtes Video, wobei man die Originalszenen durch Ausschnitte des Bühnenbildes im Hintergund sieht. Auf diese Weise wird die scheinbar dokumentarische Realität der Videoaufnahmen in einer Art Selbstreferenz des Mediums wieder denunziert und als gestellt und damit auch immer fragwürdig entlarvt. Frank Castorf wählt in seiner Inszenierung starke Bilder und Assoziationen an die heutige Medienwelt, die für ihn in ihrer konsequenten und alles bespitzelnden Schamlosigkeit dem Stalinschen Sozialismus gleichkommt. Zu sehr erinnern viele Aufnahmen an „Big Brother“, als dass dies noch Zufall sein könnte. Wer in dieser Welt eine Zeit lang gelebt hat, kann sich nie mehr erholen. Auch Margarita – dargestellt als die „heilige Hure“ mit blonder Perücke und Schmollmund – kann letztlich den kranken „Meister“ nicht mehr erlösen, auch wenn sie alles dafür tut und sich sogar dafür vom Teufel in eine Hexe verwandeln lässt.
Castorf lässt extreme Bilder sprechen, gönnt dem Publikum keine affirmative Gnade, reißt den Handlungszusammenhang – soweit er denn existiert – immer wieder auseinander und feiert geradezu eine „schwarze Messe“ aus Verzweiflung, Grausamkeit, Gleichgültigkeit und Liebe. Die Video-Technik erlaubt ihm dabei, die Schauspieler im Gegensatz zum Paradigma des Theaters dem Publikum in Großaufnahme zu präsentieren, das Gesicht in äußerster Erregung und Wut entstellt, Mund und Augen weit aufgerissen. Damit erreicht er eine außergewöhlich intensive Wirkung, die durch entsprechende akustische Untermalung – aggressive Klangelemente und Popsongs der siebziger Jahre – und ein hohes Tempo noch unterstützt wird. Auch wenn die Handlung in einer szenischen Kakophonie zerrinnt, bleibt die Gesamtwirkung konsistent und ergreifend. Das höchste Kompliment, das man Castorf wohl für diese Inszenierung machen kann, besteht darin, dass sich kaum einer der Besucher während der viereinhalbstündigen(!!!) Aufführung gelangweilt hat. Der begeisterte Applaus am Ende bestätigte dies mehr als deutlich.
Frank Raudszus
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