Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ in Darmstadt.
Shakespeares von leichtlebigen Liebeshändeln eingerahmte Geschichte vom raff- und rachsüchtigen Juden Shylock bietet sich geradezu an für eine affirmative, das „gesunde Volksempfinden“ antezipierende Inszenierung, wie wir sie von französischen Stücken à la Molière kennen. Ein mieser kleiner Geldhändler erhält für seine geradezu perversen Rachegelüste von der Gesellschaft die passende Antwort und eine doppelte Strafe gleich mit dazu. Die schlauen Frauen junger, hormonvernebelter Männer haben diesen glücklichen Ausgang schlau eingefädelt, und zum Schluss ist jeder froh und zufrieden – bis auf einen.
Britta Hübel (Jessica) und Christian Wirmer (Lorenzo)
Wie gesagt, so könnte man es interpretieren und so haben es wohl früher auch viele getan, ganz abgesehen von Shakespeares Absichten. Doch Heinz Kreindl, Schauspielleiter des Staatstheaters Darmstadt, hat wesentlich tiefer gegraben und ist fündig geworden. Shakespeare hat dieses Stück offen, ja ambivalent angelegt. In der ständischen Gesellschaft seiner Zeit konnte er massive Kritik an der herrschenden Klasse nur im Gewand einer vordergründig affirmativen Geschichte üben. Daher auch die Einladung zur „falschen“ Interpretation.
Schon die erste Szene lässt Schwarz und Weiß, Gut und Böse wie in einem Vexierbild verschwimmen. Der „gute“ Antonio (Rolf Idler), erfolgreicher und allerseits geehrter Kaufmann, möchte seinem mittellosen Freund Bassanio (Axel Holst) helfen, die reiche Portia zu freien. Da sein gesamtes Vermögen derzeit jedoch auf den Weltmeeren schwimmt, muss er den gehassten Juden Shylock (Till Sterzenbach) um einen kurzfristigen Kredit angehen. In den Ohren der den „Juden“ – ob Kaufmann oder nicht – sowieso ablehnenden venezianischen Gesellschaft klingen Antonios abfällige Äußerungen wohltuend, werden die Hinweise des Betroffenen auf sein erlaubtes und durchaus übliches Geschäft nur mit Häme bedacht. Vom ersten Augenblick an wirkt die Verurteilung des „Zinswuchers“ nur als Vorwand für ein älteres und hässliches Vorurteil – Antisemitismus oder, weiter gefasst: Fremdenhass. Damit zeigt Shakespeare bereits in der ersten Szene seine überzeitliche Aktualität. Unterschwellig stellt er eine andere Frage: warum ist Gewinn beim Warenhandel seriös, beim Geldhandel jedoch nicht? Aber, wie gesagt, Antonio ist in seiner Stellung – vorerst – unantastbar, und nutzt diese Situation selbst bei den Verhandlungen mit Shylock gnadenlos aus, indem er ihm überdeutlich seine Verachtung zeigt.
Als dieser dann, in die Enge getrieben, auf Zinsen verzichtet, für den Fall der Zahlungsunfähigkeit bei Fälligkeit des Kredits jedoch ein Pfund vom Fleische Antonios nach freier Wahl verlangt, stimmt dieser ob der Abstrusität des Gedankens lachend zu. Das Geld wird rechtzeitig zur Verfügung stehen. Kalt vor Wut verlässt der gedemütigte Geldgeber die Verhandlungsstätte.
Um den Zweikampf dieser beiden Gegner rankt sich die eher höfische Geschichte um Portia (Iris Melamed), der ihr sterbender Vater aufgetragen hatte, ihren Freiern ein Rätsel als Zugang zum Ehebett zu stellen. Aus drei Kästchen – Gold, Silber, Blei – sollen sie das erraten, welches Portias Bild birgt. Da die Bewerber aus aller Welt reihenweise versagen, sieht sich Bassiano ermutigt, selbst als Kandidat aufzutreten. Dafür schickt er seinen Freund Graziano (Hubert Schlemmer), einen wahren Weiberheld und Partyheld, als Werber vor. Natürlich bandelt der sofort mit Portias Zofe Nerissa (Nicole Averkamp) an und braucht nicht lange auf den Erfolg zu warten. Auch Portia zeigt ihre Erleichterung darüber, dass nach all den seltsamen Bewerbern endlich ein richtiger Mann kommt. Ein säbelfuchtelnder Prinz aus Marokko (Olaf Weißenberg) und der eitle Prinz von Aragon (Aart Veder) haben gerade vorher glücklicherweise das goldene und silberne und damit das jeweils falsche Kästchen gewählt. Shakespeare geben diese Szenen Gelegenheit zu seinen üblichen kompakten Philosophie-Einlagen, so wenn er die Aufschriften der beiden Kästchen: „… was man begehrt“ und „… was man verdient“ in einreimigen Gedichten kommentiert.
Doch der Unterhaltung des Publikums dienen noch weitere Liebesgeschichten, so die von Lorenzo (Christian Wirmer), der Shylocks Tochter Jessica (Britta Hübel) entführt und mit ihr einen Sack des guten Shylockschen Geldes. Wenn Jessica mit dem Geld heimlich des Nachts das Vaterhaus verlässt, mag sich jedoch keine rechte Schadenfreude einstellen. Und „last not least“ ist da noch Shylocks etwas einfältiger Diener Lanzelot Gobbo (Achim Barrenstein), der hier die bei Shakespeare obligatorische Rolle des Narren einnimmt und mit allerlei Wortspielen und Lautmalereien aufwartet. Was bei den Gegenspielern zum tödlichen Ernst wird – die Verwirrung von Recht und Unrecht -, taucht in diesen Liebeshändeln als leichtere Variante wieder auf, wird sozusagen gedoppelt und variiert, nimmt dem Stück etwas die kritische Schärfe und wurde damit für das damalige Publikum erträglich. Doch auch hier schimmert immer wieder die Brüchigkeit menschlicher Beziehungen durch, die Fallgruben des Lebens lauern hinter jeder Beteuerung, und das Vertrauen in den Mitmenschen erweist sich immer wieder als fragwürdige Investition.
Den zynischen Höhepunkt des Stückes stellt die Gerichtsszene dar. Nachdem Bassanio das richtige Kästchen gefunden hat und zusammen mit Portia in Glück versinkt – Graziano und Nerissa ebenso – , erfährt er, dass Antonio alle seine Schiffe verloren hat, den Kredit nicht zurückzahlen kann und damit sterben muss, denn Shylock will ihm das Herz aus dem Leibe schneiden. Als er überstürzt und von Portia mit ausreichend Geld versorgt, seinem Freund zu Hilfe eilt, beschließt sie, selbst zur Tat zu schreiten und sich in der Verkleidung eines Rechtsgelehrten in den Streit zu stürzen.
Die Justiz von Venedig steht derzeit vor einem schwer wiegenden Problem. Verweigert sie dem Juden Shylock sein ihm zustehendes aber perverses Recht, schafft sie einen Präzedenzfall mit kaum abzuschätzenden Folgen für den Ruf der Wirtschaftsmetropole Venedig. Gibt sie ihm Recht, muss sie tatenlos einem Mord zusehen. Die verzweifelten Appelle des Dogen (Klaus Ziemann) prallen jedoch an Shylock ab. Jahrzehntelang verachtet, gedemütigt, von der Gesellschaft gemieden und doch immer wieder in Anspruch genommen, will er sein Recht jetzt examplarisch ausüben. Es schwingt ein Teil alttestamentarischer Rache mit, aber das ist nicht die treibende Kraft der Szene. Shylock ist der ewige Unterdrückte, der gehasste Außenseiter, der nur wegen seines Andersseins abgelehnt wird. Und diese Verachtung lassen ihn die Freunde Antonios deutlich spüren, während dieser halb resigniert, halb im Vertrauen auf seine mächtige Hausmacht, den Part des ehrenvollen Verlierers spielt und die Brust entblößt. In dieser Szene kristallisiert sich die Taktik der Herrschenden heraus, den Außenseiter zwar genüsslich zu verachten, ihn aber im Falle, dass man seiner bedarf, auf seine moralischen Pflichten zu verweisen. Der Verlierer soll auch im Falle des ungeplanten Sieges aus eigenem Entschluss Verlierer bleiben, weil die Gesellschaft eine Neuordnung der gesellschaftlichen Hierarchien nicht dulden kann. Doch in diesem Fall versagt der „Loser“ die Gefolgschaft und verlangt von den Herrschenden, die Maske fallen zu lassen.
Der Konflikt löst sich, als die beiden vermeintlichen Rechtsgelehrten eintreffen. Die ohne Plan angetretene Portia versucht anfangs, mit juristischer Miene an die Großmut des Gläubigers zu appellieren, muss aber bald die Vergeblichkeit ihres Tuns erkennen. Erst als Shylock bereits mit der Messerspitze Antonios Brust berührt, kommt ihr die rettende Idee. In Venedig darf niemand das Blut eines Mitbürgers vergießen. Shylock soll sein Fleisch nehmen, aber bitte ohne Blut zu vergießen. Damit haben sie ihn, und vor allem die Männer lassen ihn seine Niederlage deutlich spüren. Shylock weiß sofort, dass er verloren hat. Sein gesamtes Lebensgebäude bricht in sich zusammen. Die Tochter mit seinem Geld verschwunden, sein Recht mit winkelzügigen Füßen getreten. Da spielt es auch keine große Rolle mehr, dass ihm Portia auch noch einen Mordversuch anhängt und sein gesamtes Vermögen einzieht. Auch ohne materiellen Verlust ist er am Ende. Gebrochen und dennoch erhobenen Hauptes verlässt er das Gericht. Er hat begriffen, wie die Welt funktioniert.
Heinz Kreindl hält das Stück in wohl abgewogener Balance. Weder erscheint Shylock bei ihm als mieser und rachsüchtiger Geschäftemacher noch als bedauernswertes Opfer der Herrschenden. Hier sind alle Opfer und Täter. Am schlechtesten kommen die so genannten „Unbeteiligten“ weg, müssen sie doch nicht existenziell Farbe bekennen, sondern können aus sicherem Port auf den vermeintlich Schwächeren schießen. Kreindl erliegt auch nicht der Versuchung, Shylock jiddisch reden zu lassen und damit das Jüdische übermäßig zu betonen oder gar Schablonen zu bedienen. Shylock spricht wie alle anderen, unterscheidet sich nur durch seine um eine Nuance strengere Kleidung von ihnen. An ihm ist nichts Sympathisches, jedoch ahnt man, dass dieser Charakter sich durch die ewige Ausgrenzung so entwickelt hat. Shylock ist das Produkt dieser Gesellschaft.
Auch Antonio lässt Kreindl in der Grauzone der ihrer selbst bewussten Tugend agieren. Seine Verachtung Shylocks wirkt eher selbstgerecht und philisterhaft. Ein integrer Mensch ist auch Antonio nicht. Die Anderen sind lebenslustige und kurzlebige Opportunisten. Bassanio taugt nicht als Lichtgestalt und will Portia eher wegen ihres Geldes und aus sportlichem Ehrgeiz gewinnen. Nur seinem Freund Antonio bringt er mehr als nur Sympathie entgegen. Seine Freunde sind ausgemachte Lebemänner, die nur ihre „coolness“ pflegen. Am Ende fällt der Vorhang und „alle Fragen bleiben offen“.
Das Bühnenbild zeichnet sich durch puristische Kargheit aus. Nichts soll vom Wort auf der Bühne ablenken. Abwechselnd abgesenkte und angehobene Vorder- und Hinterbühne symbolisieren die Handlungsebenen, und hohe Durchgänge an den Seiten markieren den Renaissance-Stil. Die Kostüme gleichen sich diesem „klassischen“ Purismus an und sind von langen, schlanken Mänteln bei den Männern und orientalisch anmutenden Anzügen bei den Frauen dominiert .
Die Darsteller setzen Kreindls Konzepts mit hohem Engagement um. Allen voran ist Till Sterzenbach zu nennen, der die ambivalente Figur des Shylock mit viel Gespür für ihre permanente Anspannung spielt. Da ist nichts Lächerliches, nichts Schablonenhaftes in seiner Darstellung. Dieser Jude steht als Metapher für alle Ausgestoßenen. Ihm steht Rolf Idler kaum nach. Sein Antonio trägt die Selbstgerechtigkeit des Erfolgreichen und Geehrten mit allen ihren fragwürdigen Facetten vor sich her. Iris Melamed in der weiblichen Hauptrollen hat nicht die Möglichkeit, einen komplexen Charakter widerzugeben. Ihre Portia überzeugt durch Frische und Direktheit, ebenso wie Nicole Averkamps Nerissa. Wären noch zu nennen Hubert Schlemmer in der Rolle des „Aufreißers“ Graziano, die ihm auf den Leib geschneidert ist, und Achim Barrenstein mit einem herrlich verdrehten, geistig abwesenden Lanzelot Gabbo. Daneben soll jedoch die Leistung des Ensembles nicht entwertet werden, das in allen Rollen überzeugte.
Das Publikum sah es bei der Premiere auch so und dankte dem gesamten Enbsemble mit lang anhaltendem Beifall und vielen Bravo-Rufen.
Frank Raudszus
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