Eine ganzheitliche Beleuchtung der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg aus einer „à priori“-Sicht.
Wir alle wissen, was sich im Sommer des Jahres 1914 ereignete und welche katastrophalen Folgen sich daraus bis zum Ende des Jahrhunderts ergaben. Dieses Wissen verführt leicht dazu, die Zeit davor hauptsächlich durch die „à posteriori“-Brille des Wissende zu betrachten und alles in einer Art inverser Kausalität auf die späteren Ereignisse zu beziehen. Philipp Blom versucht dagegen in seinem Buch „Der taumelnde Kontinent“, dieses Wissen konsequent auszublenden und das frühe 20. Jahrhundert nur aus sich selbst und seiner Genese im 19. Jahrhundert zu betrachten. Er kleidet diesen Versuch bildlich in die Vorstellung, alles schriftlich festgehaltene historische Wissen nach 1914 sei vernichtet worden und ein Historiker – hier: der Leser – müsse das Zeitalter nur aus dessen eigenen Dokumenten heraus verstehen lernen.
Blom baut sein Buch auf den ersten Blick chronologisch auf, indem er seinen Kapiteln die jeweilige Jahreszahl voranstellt – von 1900 bis 1914. Der zweite Blick – auf den erklärenden Teil der Kapitelüberschrift – zeigt jedoch eine eher thematische Gliederung, die in jedem Jahr eine bestimmte historische Tendenz in den Mittelpunkt stellt, die in dem jeweiligen Jahr aus irgendeinem Grund besonders sichtbar wurde. Das jeweilige Jahr steht also stellvertretend für einen bestimmten politischen, wissenschaftlichen, kulturellen oder technischen Themenkreis, der diese Zeit maßgeblich prägte. Blom identifiziert dabei verschiedene typische Bereiche, in denen sich die Verhältnisse dramatisch änderten oder gar zu echten Umbrüchen führten: Technik, Kunst, Politik, Militärwesen, Sexualität, Philosophie, Medien, um nur einige in ungeordneter Reihenfolge aufzuzählen.
Die rasante Entwicklung der Technik seit der Mitte des 19. Jahrhunderts – Dampfmaschine, Eisenbahn, Dampfschiffe, Elektrizität – hat zu einer solchen Erhöhung der täglichen Geschwindigkeit – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne – und der wirtschaftlichen Möglichkeiten geführt, dass gesellschaftliche Umwälzungen sich daraus geradezu zwangsläufig ergeben. Der schnelle und zuverlässige Import von Nahrungsmitteln von anderen Kontinenten – man ist nicht mehr vom Wind abhängig – lässt den im Wesentlichen auf der Landwirtschaft beruhenden Reichtum und damit die Macht des britischen Adels zusammenbrechen und ein kaufmännisch orientiertes Bürgertum mehr und mehr die Schaltstellen in der Gesellschaft besetzen. Eisenbahnen erlauben auch der Masse – wenn auch bescheidene – Reisen im eigenen Land, erweitern deren Horizont und wecken neue Begehrlichkeiten und Selbstbewusstsein. Blom schildert diesen Mentalitätswandel des Volkes mit dem schönen Beispiel der Hausangestellten, die jetzt den Wohnraum der Dame des Hauses nicht mehr nur scheu zum Servieren des Tees betritt, sondern um diese um einen modischen Rat zu ersuchen. Auf der anderen Seite sind aber gerade diese breiten Volksmassen mental in einem traditionellen, hierarchischen Ständesystem gefangen, aus dem sie sich so schnell nicht befreien können.
Die Kunst reflektiert die Zerrissenheit der Menschen in diesem Zeitalter auf geradezu paradigmatische Weise und lässt dabei bewährte Techniken weit hinter sich. Künstler wie Picasso, Klimt oder Schiele setzen die Angst vor dem Verlust der Identität und der gewohnten, Sicherheit gewährenden Strukturen in ihren Werken auf kompromisslose Art und Weise um und verschrecken damit ein auf Erbauung am Bewährten und Bekannten erpichtes Publikum. Dieses sieht in den Künstlern nicht die Gestalter ihrer eigenen Ängste sondern die Zerstörer des Wahren, Guten, Schönen, so wie in der Antike die Überbringer schlechter Botschaften umgebracht wurden.
Die Politiker denken nach wie vor in nationalen und imperialistischen Kategorien. Kaiser Wilhelm II. ist in dieser Hinsicht zwar ein besonderes und in seiner politischen Tumbheit herausragendes Beispiel, steht mit seinem nationalen Größenwahn in Europa aber beileibe nicht alleine da. Engländer, Franzosen und Belgier beuten ihre „geraubten“ Kolonien nicht nur gnadenlos aus, sondern versuchen sogar, sie den anderen Nationen abzujagen. Genozidartige Verbrechen in den Kolonien, allen voran Belgiens Massaker unter einem aus Raffgier massenmordenden König Leopold II., aber auch Englands imperialistischer Burenkrieg und Deutschlands brutale Vernichtung des Herero-Volkes, kommen dank Telegraph und modernen Zeitungswesens an die Öffentlichkeit und erschüttern die moralische Selbstgewissheit der europäischen Völker massiv, bewegen sie jedoch nicht zur politischen Umkehr. Zu sehr ist das Recht der weißen Rasse auf Eroberungen in den Köpfen verankert.
Das Militär erfindet in Zusammenarbeit mit der aufstrebenden Industrie in einem ungebremsten Wettlauf immer fürchterlichere Waffen – so die „Dreadnought“-Schlachtschiffe der Engländer, die auf einen Schlag alle Flotten wertlos machen, oder das Maschinengewehr – und glauben doch nach wie vor, nationale Konflikte mit einem lokalen Krieg à la 1864 oder 1866 lösen zu können. In geradezu naivem Waffenstolz wecken und schüren sie die Waffen- und Kriegsbegeisterung im Volk – vor allem bei jungen Männern -, das sich darunter in einem nebulösen Unverständnis nationalen Glorienschein statt blutiger Grabenkämpfe vorstellt.
Die Emanzipation der Frau naht von zwei Seiten, zum einen von den politisch agierenden Sufragetten in England und – mehr oder weniger – ihren Schwestern in anderen europäischen Ländern, zum anderen von der neuen Sicht auf die Sexualität, die vor allem Sigmund Freud predigt. Zwar ist der Wiener Psychotherapeut nicht unbedingt ein Vorkämpfer der weiblichen Gleichberechtigung, aber mit seiner Thematisierung der Sexualität kommt ein ungeschriebenes Tabu und damit das gesamte gesellschaftliche System ins Wanken. Frauen verstehen sich nich nicht mehr als Sexualobjekte und Gebärmaschinen, sondern beginnen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, zu studieren, einen Beruf zu ergreifen und vor allem ihre Sexualität mehr und mehr selbst zu bestimmen und sich aus den Fesseln des patriarchalischen Systems langsam aber stetig zu befreien. Dies wiederum verunsichert die Männer, die bis dahin Macht und Männlichkeit gleichgesetzt haben und nun beides dahinschwinden sehen. Eine schwere männliche Identitätskrise ist die Folge, die den einen in Resignation und Verzweiflung, den nächsten in Zukunftsängste und den dritten in Aggression und einen forcierten Männlichkeitswahn versetzt. Diese labile Gemütslage der immer noch an den Schalthebeln der Macht sitzenden Männer betrifft ganz Europa und vor allem Frankreich und trägt erheblich zur zunehmenden Labilität der politischen Verhältnisse bei.
In der Philosophie finden vor allem die verunsicherten Männer in Friedrich Nietzsche ihr Idol. Meist missverstanden, dient er ihnen als Apologet einer unreflektierten Theorie des „Übermenschentums“, die sich schnell in rassistische Überlegenheitsgefühle und in imperialistisches Gehabe wandelt. Nietzsche formuliert die unbewussten Ängste seiner Zeitgenossen, diese biegen sich jedoch seine mehr auf innere Überwindung des „alten“, unfertigen Menschen angelegte Philosophie für ein macht- und männlichkeitsbewusstes Handeln in der Realität zurecht.
All diese Tendenzen arbeitet Blom detailliert heraus, geht sowohl in die Tiefe als auch in die Breite der Zeit und ihrer Strömungen und schafft so ein facettenreiches, oft geradezu überraschendes Bild dieser Epoche. Auch eher skurrile oder fast unheimliche Episoden weiß er zu berichten: so von dem Schriftsteller, der 1898 (sic!) in einem Roman die Geschichte von einem großen Luxusdampfer namens „Titan“ erzählt, der beim Wettlauf um die schnellste Atlantiküberquerung einen Eisberg rammt und mangels ausreichender Rettungsboote den größten Teil seiner Passagier mit in die Tiefe reißt……
Blom vermeidet bei seiner Schilderung dieser Epoche fast peinlich jegliche plakative Hinweise auf den – dem Nachgeborenen bekannten – Ersten (und Zweiten) Weltkrieg und begnügt sich mit Verweisen auf literarische Ahnungen der kommenden Katatstrophe. Er hält auch Distanz zu allen Ideologien der Zeit, beschreibt den aufkommenden Sozialismus mit der gleichen kritischen Distanz wie die Anfänge des Faschismus oder gar die permanent vorhandenen Anzeichen eines in allen Ländern mehr oder weniger latent vorhandenen Antisemitismus. Er versteht sich nicht als verspäteten Aufklärer, eine im Hinblick auf die seitdem verstrichene Zeit sowieso lächerliche Position, sondern als Chronisten aus der Mitte der beschriebenen Zeit und nicht aus der Höhe des „à posteriori“. Blom besticht außerdem durch einen unterhaltsamen Stil, der in keinem Widerspruch zur übermittelten Information steht. Weitere Detaillierungen verlegt er er in einen Anhang, der übersichtlich nach Kapiteln organisiert ist. Ein umfangreiches Personen- und Sachregister schließt das Buch ab.
Ärgerlich sind nur die sachlichen und lektoralen Fehler. So macht Blom in Musils „Mann ohne Eigenschaften“ Clarisse statt Agathe zu Ulrichs Schwester, ein Fehler, den – wenn nicht der Autor – jeder Lektor entdecken müsste, und einige massive orthographische oder grammatische Fehler (Seiten 346, 352, 376,377, 391, 396, 419, um nur einige zu nennen) stören bisweilen das Lesevergnügen. Dennoch stellt dieses Buch für jeden, der die unzähligen Bücher mit „zwingenden“ Herleitungen der beiden großen Kriege aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg leid ist, eine lesenswerte Alternative dar, um sich über die „verrückte“ Zeit zwischen 1900 und 1914 zu informieren.
Das Buch „Der taumelnde Kontinent“ ist im Hanser-Verlag unter der ISBN 978-3-446-23292-1 erschienen und kostet 25,90 €.
Frank Raudszus
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