Igor Levit spielt beim Rheingau Musik Festival auf Schloss Johannisberg Beethovens drei letzte Sonaten.
Ludwig van Beethovens drei letzte Klaviersonaten – op. 109 in E-Dur, op. 110 in As-Dur und op. 111 in c-Moll – schließen nicht nur sein Soloklavierwerk ab, sie tragen auch unmittelbar aufeinanderfolgende Opuszahlen und sind damit „in einem Block“, entstanden, und zwar 1821/22. Das schweißt diese drei Werke mehr zusammen als eventuelle kompositorische Ähnlichkeiten, und zu Recht bezeichnet man diese drei Sonaten gerne als Beethovens musikalisches Vermächtnis.
Igor Levit, in dem mancher vielleicht einen der vielen aufstrebenden russischen Pianisten vermutet, ist im Grunde genommen Deutscher, obwohl er 1987 in Russland zur Welt kam. Bereits als Fünfjähriger wanderte er mit seinen Eltern nach Deutschland aus und durchlief hier seine gesamte Ausbildung. Daher war es ihm auch ohne Weiteres möglich, vor dem Konzert eine kleine Einführung zu geben, eine positiv überraschende Geste, die man von nur wenigen Pianisten gewohnt ist. In druckreifem Deutsch – siehe oben – und freier Rede schilderte er dem Publikum seine Erkenntnisse über das pianistische Spätwerk Beethovens, die er während seiner Arbeit an den Sonaten gewann. So entdeckte er im op. 110 im „klagenden Gesang“ ein Zitat aus Bachs Johannis-Passion, und in op. 109 und 111 fand er ähnliche Zitate, teilweise aus eigenen Werken. Allen war die absteigende Linie gemein, die eine gewisse Entsagung ausdrückt. Levit sieht darin – bei aller gebotenene Vorsicht – eine Botschaft des alternden und fast gehörlosen Beethoven an die Musikwelt. Die Tatsache, dass er danach keine Sonate mehr schrieb – was sollte nach op. 111 auch noch kommen? -, spricht für diese Interpretation.
Igor Levit hatte sich folgerichtig dafür entschieden, alle drei Sonaten ohne die übliche Konzertpause „en bloc“ zu spielen. Auch der Beifall nach den ersten beiden Sonaten unterblieb, obwohl Levit dies gar nicht eingefordert hatte. Das Publikum verstand nicht nur sein Anliegen sondern interpretierte seine gesammelte Haltung nach dem Ende einer Sonate richtig. Diese Konzertstruktur stellte natürlich nicht nur an den jungen Solisten – er ist gerade einmal 27 Jahre alt – höchste Anforderungen hinsichtlich Konzerntration und Kondition, sondern forderte auch vom Publikum für eineinhalb Stunden gesteigerte Aufmerksamkeit.
Die Sonate op. 109 begann Levit ausgesprochen verhalten, die kurzen, zwischen den Händen wechselnden Figuren tupfte er fast zart in die Tasten. Dann jedoch kam er der Struktur des ersten Satzes immer näher, arbeitete mit starken Rubati und Ritardandi bis hin zu Pausen. Levit spielte keinen einzigen Takt nur „nach Noten“, sondern er sezierte die Musik bis ins kleinste Detail und setzte sie wieder zusammen. Jede Note erhielt eine Bedeutung, auf manchen verweilte er Sekunden, um dann die folgenden Figuren durch Anschlagvarianten und Tempoänderungen individuell zu modellieren. Von Anfang an brachte er damit eine hohe Spannung vor allem in die langsamen Passagen, die sich dann in plötzlichen Steigerungen des Tempos und des Anschlags entlud. Beethoven ließ bereits in dieser Sonate die klassische dreisätzige Sonatenform – schnell, langsam, schnell – hinter sich und verdichtete sein musikalisches Empfinden auf kleinstem Raum, will heißen: der Kontrast der Tempi und Dynamik spielt sich oftmals innerhalb eines Satzes in aufeinanderfolgenden kurzen Passagen ab. Jeder Augenblick ist in dieser Musik voller Spannung, und die Grundstimmung kann jederzeit abrupt umschlagen. Diese Wechsel nicht nur technisch korrekt und ohne Durchdringung der musikalischen Aussage zu spielen ist außerordentlilch schwierig, aber Igor Levit gelang es bereits in diesem ersten Satz von op. 109, den revolutionären Charakter der letzten Beethovensonaten offenzulegen. Hier folgt ein Komponist nicht mehr den Formvorgaben seiner Zeit und Zunft, hier setzt sich ein Ausnahmekünstler souverän über alle Konventionen hinweg und lässt seinem Einfallsreichtum freien Lauf, ohne dabei allerdings in belangloses musikalisches Schwadronieren zu geraten. Jedes Motiv und jede Tempoänderung sind aufs Sorgfältigste geplant und der jeweilige Effekt bewusst erzeugt. Levit lud die Zuhörer sozusagen zu einem heimlichen Besuch in Beethovens Arbeitszimmer ein und ließ sie in dessen Kopf schauen, in dem sich wegen der Schwerhörigkeit die Musik sozusagen virtuell ausbreitete. Nach den Kontrasten und der streckenweise buchstäblich „zerrissenen“ Struktur des ersten Satzes kamen dann die ersten Variationen des zweiten Satzes – nach dem lyrischen Thema – federleicht daher, um sich dann zu steigern zu rauschenden Läufen, langen Trillern in beiden Händen und forciertem Tempo. Am Schluss stand – ganz unschuldig – das ursprüngliche Thema, und die Sonate endete in lyrischem Frieden, als sei der ganze Aufruhr vorher nur ein Traum gewesen.
Nach einer Konzentrationspause von etwa einer Minute begann Levit den ersten Satz von op. 110, ein liedhaftes Thema, expressiv aber verhalten. Die Spannung steckte hier nicht in der Lautstärke sondern im Anschlag und den minimal verzögerten Tempi. auch hier arbeitete Levit die Strukturen wieder wie mit einem feinen Meißel heraus. Er erinnerte dabei an einen Bildhauer, der aus einem spröden, teilweise widerspenstigen Material die feinsten und auch wieder markantesten Gebilde zaubert, ohne dabei je Kraft oder gar Gewalt einzusetzen. Den zweiten Satz begann Levit forciert und „zerriss“ ihn in der Folge förmlich, wobei dieser Begriff hier nicht abwertend gemeint ist. Er tat nichts anderes als die starken Kontraste konsequent auszuspielen und dabei auf jeglichen vermeintlichen „Wohlklang“ oder das berühmte „Mittelmaß“ zu verzichten. Damit legte er die Absichten Beethovens offen, oder besser gesagt: er legte seine Sicht von Beethovens Absicht in sein Spiel. Beethoven muss, nicht zuletzt durch seine Erkrankung, selbst innerlich zerrissen gewesen sein und suchte mit seinen Kompositionen die Grenzen der Musik auszuloten. Das Verständnis der Kritiker oder gar des Publikums war ihm in diesem Zustand gleichgültig; er schrieb nicht für seine Zuhörer sondern für sich, die Musik – und die Nachwelt. Manche Passage erscheint bereits in diesem Werk ausgesprochen modern. Eine längere Passage in diesem Satz verströmt buchstäblich „Grabesstille“, obwohl vom Klavier Klänge zu vernehmen sind. Doch die Art dieser Klänge ist nicht von dieser Welt, wenn Igor Levit sie spielt. Die anschließende Fuge brachte dann noch einmal eine etwas abgehobene Strenge und Abgeklärtheit, bevor das rauschende Finale alle jenseitigen Gedanken hinfortspülte.
Mit op. 111 endete das Konzert dann sozusagen „standesgemäß“. Wenn man will, kann man die drei letzten Sonaten auch als die drei Sätze einer überdimensionierten Sonate betrachten. Die E-Dur-Sonate ist dann der facettenreiche und bewegte Kopfsatz, die As-Dur-Sonate der liedhafte Mittelsatz, und die c-Moll-Sonate beendet den Zyklus als Finalsatz mit einer großartigen, nicht mehr überbietbaren Apotheose der Klaviermusik. Mit den ersten Takten „riss“ Igor Levit diese Sonate buchstäblich auf. Danach baute er einen sich langsam steigernden Spannungsbogen auf, der die Zuhörer mit seinen fast dramatisch zu nennenden Verzögerungen förmlich auf die Folter spannte. Im zweiten Satz dann formulierte er jeden musikalischen Gedanken bis auf die einzelne Note aus. Man hatte den Eindruck, dass Igor Levit mit der Partitur und dem Flügel ein intensives Zwiegespräch führte, das die musikalischen Eigenarten erklärte und im einzelnen vorführte. Kein Takt schien hier beiläufig oder gar überflüssig, jeder Note gewann Levit eigenes Gewicht und individuelle Bedeutung ab. Mit seiner konsequenten Ausleuchtung der Partitur schaffte er es bis zuletzt, auch nach eineinhalb Stunden die Zuhörer noch in seinen Bann zu schlagen. Über die ganze Zeit war kein einziger Hustenlaut zu hören, ein äußerst seltenes und außerdem untrügliches Zeichen dafür, dass die Zuhörer sich auf nichts anderes konzentrierten als auf die Musik vorne auf dem Podium.
Nach den letzten, leise wie ein Abschied verklingenden Tönen herrschte erst einmal für erstaunlich lange Sekunden Stille, die auch kein aufgesetztes „Bravo“ störte. Erst als der erschöpfte Levit langsam seinen Kopf hob und zaghaft die Hände von den Tasten nahm, brach der Beifall los und steigerte sich schnell zur Begeisterung. Das Publikum erkannte unisono und spontan, an diesem Abend eine besondere musikalische Darbietung erlebt zu haben, die man so schnell nicht wieder erleben würde. Igor Levit bedankte sich mit fast scheuem, aber glücklichen Lächeln, verkniff sich jedoch jegliche Zugabe. Nach dieser Interpretation der letzten drei Sonaten hätte jede Zugabe banal geklungen.
Frank Raudszus
No comments yet.