…wenn man trotzdem lacht

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Das Staatstheater Darmstadt inszeniert das Musical „Anatevka“ („Fiddler on the Roof“).

Wer kennt nicht die mittlerweile zu Gassenhauern gewordenen Lieder des jüdischen „Milchmanns“ Tewje, so das „Wenn ich einmal reich wär…“, mit ihrer als typisch jüdisch interpretierten Schlitzohrigkeit. Tewje ist vor allem in Deutschland zum Archetypus des „liebenswerten“ Juden avanciert, den man in einer Art kollektiv-unbewusster Abbitte mitsamt aller Klischees dieser Figur zu lieben gelernt hat. Gleichzeitig hat sich das Musical als ein Markenzeichen des jüdischen Humors und der friedliebenden Lebensweise der Juden im Osteuropa zu Beginn des letzten Jahrhunderts durchgesetzt. Die (Sehn-)Sucht gerade des deutschen Publikums nach einem lebensfrohen und optimistischen Musical über dieses unser kollektives Gewissen so belastendes Volk ist zwar erklärbar, blendet jedoch die wenig humoristische Handlung des Stücks weitgehend aus.

John Dew hat sich in Darmstadt der Neuinszenierung persönlich angenommen. Er verzichtet konsequent auf eine musikalische Nummernrevue und räumt dem gesprochenen Text einen weiten Raum ein. Diese Sprachlastigkeit irritiert den auf ein Musical eingestellten Zuschauer anfangs, schält sich dann aber zunehmend als eine bewusste Strategie zur Darstellung der eigentlichen Geschichte vom Milchmann Tewje und seiner jüdischen Mitbürger heraus. Denn die ist alles andere als pittoresk und volksnah-herzlich.

Monte Jaffe als Tewje

Monte Jaffe als Tewje

Der erste Akt bestätigt noch weitgehend die üblichen und wohl auch nicht falschen Vorstellungen des „Schtetls“: überkommene Traditionen, ein fest geschnürtes und kaum hinterfragtes religiöses Korsett und eine konsequent auf das „Hier und Jetzt“ abgestellte Lebensweise mit einer geradezu paranoiden Abwehr aller Neuerungen. So eine Milieuschilderung trifft natürlich den Nerv einer Konsumgesellschaft, die den selbst betriebenen Konsum verbal beklagt und die Vorzüge eines einfachen Lebens mit dem Tremolo der Abgeklärtheit ebenso gerne beschwört. Die „Amish-People“ wecken noch heute diese Reflexe, während das heutige Israel für die romantisierte Lebenswelt seiner Vorfahren nicht mehr einstehen will und kann. In diesem ersten Akt erfüllen alle Charaktere die Vorstellungen, die man sich von den damaligen Ostjuden macht, ob zu Recht oder nicht. Jeder zeigt auf seine Weise eine gewisse Schlizohrigkeit, aber man keinem böse sein. Der verträumte Tewje kehrt bei Bedarf verbal den Hausvorstand heraus, beugt sich aber in allem seiner Frau Golde, die für den blanken Pragmatismus steht und im Hause ein konsequentes Regiment führt. Die Töchter sitzen nur im Hause und warten darauf, dass die Heriratsvermittlerin ihnen einen passenden Mann besorgt. Der Rabbi versteht nur seine Thora und steht der realen Welt liebenswürdig aber ratlos gegenüber; sein Sohn sieht in jedem selbständig denkenden Mann einen Anarchisten, würde einem solchen jedoch kein Haar krümmen. Wenn sich zwei Streithähne versöhnen, nehmen sie den Streit zwar verbal postwendend wieder auf, doch immer auf eine scheinbar kindlich-trotzige Weise, die nie in Aggression ausarten könnte.

Diese Eigenschaften der jüdischen Bevölkerung des Dorfes Anatevka werden an Hand einer einfachen Handlung ausgebreitet. Der verwitwete Fleischhändler Lazar will Tewjes Tochter Zeitel heiraten, wozu er die Heiratsvermittlerein Jente eingeschaltet hat. Mutter Golde ist glücklich, die Älteste aus dem Hause und unter einer wohlhabenden Haube zu wissen, und selbst Tewje lässt sich dank eines guten Cognacs von Lazar überzeugen. Das anfängliche Missverständnis bei diesem Männergespräch – Tewje denkt, dass Lazar ihm seine einzige Milchkuh abkaufen will – führt natürlich zu einem grotesken Dialog, der jedoch eher Kalauerqualitäten aufweist, da die „Pointen“ vorhersehbar sind. Ähnlichen Charakter weisen die typisch jüdischen Witze auf, die anfangs zur Charakerisierung der jüdischen Mentalität im flotten Wechsel zitiert werden und nicht neuesten Datums sind. Klar, dass Zeitel den alten Fleischer nicht heiraten will, da sie längst in den Schneidergesellen verliebt ist, der sich nur nicht traut, bei Tewje um sie zu freien. Doch mit knapper Not kann Zeitel der arrangierten Ehe entfliehen und ihren Mottel heiraten. Tewje, der sich von Mottel hat überzeugen lassen und in seiner Gutmütigkeit nur wenige Minuten auf der väterlichen Verfügungsgewalt besteht, lässt sich dabei eine besondere List einfallen, um seine resolute Ehefrau von der Änderung in letzter Minute zu überzeugen. Er beschreibt ihr einen grässlichen nächtlichen Traum mit dem Erscheinen der schon vor langer Zeit gestorbenen Frau des Fleischers so eindringlich, dass sie – und mit ihr die Zuschauer – ihn noch einmal nacherlebt. Diese nächtliche „Bettszene“ zwischen Tewje und Golde gehört samt Gespenstern und Lichteffekten zu den besten Szenen des ganzen Abends.

Monika Mayer (Golde), Monte Jaffe (Tewje), Margaret Rose Koenn (Oma Zeitel)

Monika Mayer (Golde), Monte Jaffe (Tewje), Margaret Rose Koenn (Oma Zeitel)

Auch die Politik kommt mit dem Student und Freidenker Perchik zu ihrem Recht. Mit seinen neuen und geradezu aufrührerischen Ansichten über die Gleichberechtigung der Menschen, Völker und – vor allem! – der Geschlechter weckt er Misstrauen und Abwehr, und sein Tanz mit Tewjes Tochter Hodel ist ein eklatanter Bruch aller Konventionen, den der Rabbi-Sohn mit dem Ausruf „Anarchist“ kommentiert, die jungen Frauen jedoch mit Wohlgefallen registrieren. Die nächste Tochter verliebt sich ausgerechnet in einen jungen, nicht-jüdischen Soldaten und überschreitet damit die Schmerzgrenze ihres Vaters.

Der erste Akt endet mit Zeitels Hochzeit scheinbar gut. Zwar empört sich der Fleischer Lazar über Tewjes Wortbruch, und Perchik begeht den Faux-Pas, Hodel öffentlich zum Tanzen aufzufordern. Doch beide Eklats verkraftet die Dorfgemeinschaft problemlos, wobei sie sich sogar Perchik anschließt und wild durcheinandertanzt. Doch dann erscheint die Polizei und zerschlägt die Feier im wahrsten Sinne des Wortes. Auf höhere Weisung haben sie ein Exempel an den Juden zu statuieren, und dieser Pflicht entledigen sie sich bei dieser Hochzeitsfeier mit dem Gummiknüppel. Urplötzlich hat sich das romantisierte „Schtetl“-Milieu zu einer unverhüllten Assoziation der Judenverfolgungen im 20. Jahrhundert gewandelt. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes „Schluss mit lustig“, und John Dew zeigt dies nicht nur durch die Sprachlosigkeit der Protagonisten, die geschockt auseinandergehen, sondern auch in der physischen Verletzung eines Festteilnehmers durch die Polizisten. Bevor der Vorhang fällt, ertönt aus dem „Off“ wie aus einer fernen Zukunft der gellende Schrei einer Frau, der alle entgeistert in diese Richtung blicken lässt. Dieser Moment hinterlässt in seiner Deutlichkeit und in seinem gleichzeitigen Verzicht auf jede Vordergründigkeit den stärksten Eindruck der ersten Hälfte.

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Lucian Krasznec (Mottel Kamzoil), Monte Jaffe (Tewje), David Pichlmaier (Perchik), Malte Godglück (Lazar Wolf)

Der zweite Akt verzichtet dann bis auf wenige Episoden auf humoristische Elemente und schildert den Niedergang der übersichtlichen Welt des Tewje und seiner Dorfgemeinschaft. Perchik und Hodel gehen auch ohne Tewjes väterliche Erlaubnis eine Beziehung ein und bitten nur um seinen Segen. Als Perchik in Kiew wegen seiner politischen Aktivitäten im Gefängnis landet, zieht Hodel ihrem Verlobten hinterher, um ihm beizustehen. Als nächste heiratet seine Tochter Chava gegen Tewjes striktes Verbot ihren Soldaten Fedja und wird deshalb von Tewje verstoßen. Für Tewje löst sich alles auf, was ihm wert und teuer ist, und da kommt die Anordnung der russischen Behörden, dass alle Juden binnen drei Tagen die Stadt zu verlassen haben, nur noch als Bestätigung des Unglücks. Für die Zuschauer gewinnt diese unerbittlich durchgeführte Vertreibung natürlich einen ganz anderen Stellenwert, erinnern doch die Uniformen der Polizisten entfernt auch an deutsche Wehmachtsuniformen, obwohl diese Ähnlichkiet eher „gefühlt“ ist als dass sie plakativ in den Vordergrund tritt. Mag sein, dass die späteren historischen Ereignisse die Ähnlichkeit der Uniformen provozieren. Die Stille im Saal jedenfalls ließ darauf schließen, dass jeder die Analogie der Situation erkannte. Im Musical geht es insofern noch „gut“ aus, als Tewje mit Frau und Kindern nach Amerika auswandert, während es seine verheirateten Kinder weiter nach Westeuropa zieht. In der Realität des auf die Zeit der Handlung folgenden Jahrhunderts sah es dagegen weit düsterer aus. Die Nachfahren der Tewjes und Lazars erhielten später nicht mehr die Gelegenheit zur mehr oder weniger freiwilligen Auswanderung. John Dew zeigt denn auch in der letzten Szene einen düsteren Treck einsamer und verlorener Gestalten, die auf der Suche nach einer Heimat in einem endlosen Kreis laufen.

Heinz Balthes hat für diese Inszenierung ein Bühnenbild geschaffen, das am Bühnenhorizont die schwarzen Silhouetten eines kleinen Dorfes unter einem wildbewegten, fahlweißen Himmel zeigt. Das Gekritzel auf den Wolkenformationen mutet wie letzte Grüße oder verzweifelt hingeworfene Notizen aus einer untergehenden Stadt an, ohne dass ihm irgendwelche Worte zu entnehmen sind. Auf Plakativität in jeglicher Weise verzichtet Dew bewusst, doch die Atmosphäre des Bühnenbilds spricht für sich. Einziges Zugeständnis an das Lokalkolorit des „Schtetl“ ist das einfache Bauernhaus mit seinen groben Holzwänden und dem Schieferdach. Auch im Inneren dieser halboffenen Hausattrappe herrschen Schlichtheit und Armut. Die Kostüme von José-Manuel Vázquez verweisen auf das historische Vorbild der kleinen jüdischen Dörfer in der Ukraine des späten 19. Jahrhunderts, samt Gebetsschals und mehr oder minder wallenden Bärten und Zöpfen. Der Chor unter der Leitung von André Weiß tritt in dieser Inszenierung in vielfältiger Gestalt auf, muss sich immer wieder neu arrangieren und darüber hinaus auch kleine Einzelrollen übernehmen. Durch bewegliches Spiel und durchgängige Präsenz prägt er die Inszenierung über das übliche Maß hinaus. Fast möchte man sagen, neben dem Hauptdarsteller spielt der Chor in Gestalt der Dorfgemeinschaft die zweite Hauptrolle.

Monte Jaffe (Tewje), Chor, in der letzten Szene

Monte Jaffe (Tewje), Chor, in der letzten Szene

Bei der Betrachtung der Einzeldarsteller sticht natürlich Monte Jaffe als Tewje hervor. Monte Jaffe merkt man seine Professionalität an, wobei seine Spielweise bei aller Schlitzohrigkeit und Lebenstüchtigkeit bisweilen das Klischee etwas zu sehr bestätigt. Doch die Rolle ist so dankbar, dass der Szenenbeifall nach verschiedenen Auftritten geradezu vorprogrammiert ist. Als Titelfigur steht er zwar im Mittelpunkt, doch neben ihm kommen die anderen Rollen ausreichend zur Geltung. Dabei überzeugt Monika Mayer als resolute und nie um eine Wort verlegene Golde, die aber trotz ihres dominanten Wesens auch Gefühle zeigen kann („Ist es Liebe?“). Stephanie Theiß gibt eine geschäftstüchtige und wortreiche Heiratsvermittlerin Jente, und Anja Vincken, Margaret Rose Koenn, Susanne Serfling sowie Aki Hashimoto spielen Tewjes vier erwachsenen Töchter (die fünfte ist noch ein Kind). Sie stehen dabei jedoch vor dem Problem, dass sie als Rollen mehr oder minder alle über denselben Kamm geschoren werden und sich kaum voneinander unterscheiden können. Lucian Krasznec verleiht dem Schneider Mottel durchaus ein unverwechselbares Profil, während David Pichlmeier als Student Perchik wegen dessen intellektueller Steifheit eher verhalten agieren muss. Malte Godglück hat mit dem bramabarsierenden Metzger Lazar Wolf wiederum eine dankbare Rolle, was auch für den Rabbi (Lawrence Jordan) und seinen Sohn Mendel (Stefan Steinhauer) gilt. Daneben treten noch eine Reihe weiterer Darsteller in mehr oder weniger kurzen Nebenrollen auf. Zu erwähnen sind noch die acht Tänzer des Ballettes, die sowohl als Soldaten wie auch als jüdische Bürger ind schwarzer Kleidung ihre Tanzkünste auf nicht nur akrobatische sondern auch witzige Weise zeigen.

Die an diesem Abend eher spärliche Musik – das Stück ist mehr als „Schauspiel mit Musik“ zu bezeichnen – hält sich kammermusikalisch zurück und stützt die gesanglichen Auftritte eher als dass sie eigene Akzente setzt. Im Gegensatz zur Oper gilt beim Musical – wenigstens bei diesem – der Primat der Sprache vor dem Gesang. Das hat dann zumindest den Vorteil, dass die Handlung samt aller Dialoge sehr gut zu verstehen sind, so dass sich eine elektronische Übertitelung erübrigt. Wenn man einmal den Grundtenor dieser Inszenierung verstanden hat, findet man zunehmend in sie hinein und kann ihr am Ende – trotz oder wegen – der Sprachlastigkeit viel abgewinnen.

Das Premierenpublikum machte nach der gut dreieinhalbstündigen Aufführung einen etwas erschöpften EIndruck, so dass der Beifall zwar kräftig ausfiel, aber ohne eruptive Beifallskundgebeungen wie „Bravo“-Rufe. Allerdings hörte man an diesem Abend auch kein einziges „Buh“, das sonst bei Opernaufführungen fast schon obligatorisch aus der einen oder anderen Ecke ertönt.

Weitere Aufführungen finden am 18. und 30. Juni statt.
Frank Raudszus

Alle Fotos © Barbara Aumüller

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