Die Weite und das Nichts

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Das Staatstheater Darmstadt inszeniert Anton Tschechows „Onkel Wanja“.

Man könnte dieses seltsamerweise mit „Komödie“ bezeichnete Theaterstück auch anders, kürzer inszenieren. Die bewusst sparsam gehaltene Handlung ließe sich ohne Pause in gut einer Stunde über die Bühne bringen, nur müsste dann am Ende Onkel Wanja sich oder den Professor erschießen, um einer solchen „Tempo-Version“ den krönenden Abschluss zu verleihen. Abgesehen vom abgeänderten Ende wäre das jedoch nicht Tschechow, denn zu Tschechow gehört gedanklich die unendliche Weite des zaristischen Russlands, seinen verstreuten Güter und die endlose Langeweile und Ziellosigkeit bei deren Bewohnern. Fast zwanghaft hat Anton Tschechow immer wieder die Verlorenheit des russischen Landadels, die Sehnsucht nach der Großstadt – Moskau oder St. Petersburg – und die Unfähigkeit beschreiben, die eigene Lage zu ändern oder dem Leben einen neuen Sinn zu geben. Der morbide Geruch der Dekadenz durchweht alle Tschechowschen Stücke, so auch dieses, dessen Personen sich in der – geografischen und mentalen – Weite Russlands ins Nichts verlieren.

Harald Schneider (Iwan Petrowitsch Wojnizkij), Tom Wild (Michail Lwowitsch Astrow)

Harald Schneider (Iwan Petrowitsch Wojnizkij), Tom Wild (Michail Lwowitsch Astrow)

Das Tableau ist typisch für Tschechow: die Tochter der Gutsbesitzerin Wojnizkaja hat den Professor Serebrjakow geheiratet und ist mit ihm in die Großstadt gezogen. Ihr Bruder Iwan, genannt Wanja, hat jahrelang schwer gearbeitet, um mit den schmalen Erträgen des Gutes das aufwändige Stadtleben des Paares zu finanzieren, war man doch voller Stolz über den Aufstieg der Schwester in die akademische Oberschicht. Nach dem Tode der Schwester hat auch deren Tochter Sonja selbstlos mitgearbeitet. Als der mittlerweile emeritierte Professor das teure Leben in der Großstadt nicht mehr bezahlen kann, zieht er mit seiner jungen und bildschönen Frau Jeléna auf das Gut, wo er sich sofort als ruhebedürftiger und verehrungswürdiger Hausherr etabliert. Wanja, selbst schon in den Fünzigern, verliebt sich so unsterblich wie unglücklich in Jeléna und entdeckt, dass der bewunderte Professor nie größere Leistungen erbracht hat und in seinen Vorlesungen nur Dinge vorgetragen hat, die „jeder gebildete Mensch bereits wusste und die Studenten nicht interessieren“. Dennoch bleibt er in seiner klaglos dienenden Haltung befangen, wenn auch der Professor durch seine Ankunft die gesamte arbeitsame Atmosphäre auf dem Gut zerstört hat. Man steht spät auf, trinkt den Morgentee mittags und isst abends zu Mittag. Eine tiefe Lethargie hat sich über Wanja und damit über das Gut gelegt; nur Sonja versucht in ihrer Zukunftsgläubigkeit, so etwas wie eine Struktur in das Leben im Hause zu bringen. Jeléna zieht wie ein böser Geist durch das Haus, verdreht den Männern den Kopf und stirbt fast vor Langeweile, da sie für Empfänge, Ausfahrten und Bälle erzogen wurde, jedoch nicht für das eintönige Leben auf dem Gut. Zur Arbeit im landläufigen Sinne fehlt ihr sowohl das Verständnis als auch der Antrieb.

In diese erstarrte Welt bringt nur der Arzt Astrow ein wenig Leben und Bewegung. Der Junggeselle in den Dreißigern schindet sich in seinem Arztberuf Tag und Nacht und sieht doch nur den Stillstand in der medizinischen und materiellen Versorgung des Volkes. Die tiefe Enttäuschung über die Stagnation im zaristischen Russland hat ihn bereits ein gutes Stück weit in den Wodka getrieben; nur seine Liebe zum Wald und seine unaufhörlichen Versuche, diesen vor der Zerstörung durch Rodung und Holzraub zu retten, halten ihn noch aufrecht. Sonja hat sich in diesen engagierten Hoffnungsträger unsterblich verliebt, weiß jedoch um ihre mangelnde Schönheit und ahnt sein Desinteresse. Astrow dagegen ist von der ersten Stunde an Jeléna verfallen, die in ihrer Langeweile und ihrer Abscheu vor ihrem alternden und schwadronierenden Ehemann ebenfalls verstecktes Interesse an ihm gefunden hat. Als ausgerechnet Jeléna für Sonja bei Astrow vorfühlt, gibt dieser – im Innersten getroffen – seine Zurückhaltung auf und gesteht ihr seine Liebe. Die Szene endet in einem kompromittierenden Fiasko, da Wanja genau in dem Moment des beiderseitigen Zusammenfindens auf der Szene erscheint.

Der in seiner Liebe zutiefst enttäuschte Wanja verliert jedoch erst die Fassung, als der Professor vor der versammelten Familie seine Absicht erklärt, das Gut zu verkaufen und dafür Wertpapiere – natürlich für seinen Lebensunterhalt – zu erwerben. Doch erst das Desinteresse des zugeheirateten Phrasendreschers an der Zukunft der für sein Wohlleben schwer arbeitenden Gutsbetreiber lässt  Wanja zum Amokläufer werden. Mit der Pistole in der Hand verfolgt er den Professor, trifft ihn jedoch trotz zweier Versuche nicht. In dieser dem Untergang geweihten Welt gelingt nicht einmal der einfache Mord aus Rache. Der Professor und seine Frau reisen ab, einen kurzen Moment zögern Jeléna und Astrow voreinander, doch ihr fehlt der Mut zum Skandal und ihm die Kraft, noch einmal aufzubegehren. Einige kurze Minuten geht Astrow noch hinter Sonja auf und ab, offensichtlich die Alternative einer Vernunftheirat mit eigenem Hausstand überlegend, dann lässt er anspannen. Wanja und Sonja setzen sich an den Tisch und erledigen lange liegengebliebene Verwaltungsarbeit. Sonjas letzter, resignierter Satz lautet: „Wir werden Ruhe finden“.

Harald Schneider (Iwan Petrowitsch Wojnizkij), Christina Kühnreich (Jelena Andrejewna)

Harald Schneider (Iwan Petrowitsch Wojnizkij), Christina Kühnreich (Jelena Andrejewna)

Regisseur Martin Ratzinger siedelt seine Inszenierung in einem gut- bis großbürgerlichen Ambiente ohne exakte Zeitzuordnung an. Das Mobiliar zeigt deutlich konservative Züge, könnte jedoch durchaus in dem einen oder anderen heutigen Haushalt stehen. Das Gleiche gilt für die Kostüme, die eine größere Zeitspanne des 19. und 20. Jahrhundert überspannen. Damit schafft er eine gewisse Distanz zu dem historischen Russland, ohne den Stoff plakativ zu aktualisieren. Die erste Szene erinnert ein wenig an die Kneipenszene aus „Endstation Sehnsucht“: untätig sitzen die strickende Marina (Sonja Mustoff), der sich langweilende Astrow (Tom Wild) und der Gehilfe Telegin (Hubert Schlemmer) in der Nachmittagshitze vor dem Haus und tun – nichts. Die Zeit verstreicht träge, und nur der Griff zur Wodka-Flasche unterbricht ein wenig die Untätigkeit. Von Zeit zu Zeit fällt ein knapper Satz ohne Inhalt, man hört buchstäblich die Grillen zirpen. Diese Szenen ausgeprägter Langeweile häufen sich im Laufe des Stücks, und Ratzinger lässt sie ganz bewusst breit ausspielen. Schweigsam sitzen dann die Personen um den Tisch, liegen – über die Ödnis des Lebens klagend – auf einem Kanapee oder lehnen mit stumpfem Blick an einer Zimmerwand. Nur Sonja und Telegin bringen so etwas wie den alltäglichen Optimismus des einfachen Volkes zum Ausdruck, da sie ihn dringend zum physischen Überleben benötigen.

Man fragt sich angesichts dieser Inszenierung natürlich, welche aktuelle Bedeutung „Onkel Wanja“ heute noch aufweist. Sicherlich kann die heutige Zeit nicht über den ewigen Gleichklang der Eintönigkeit und Langeweile klagen. Die Globalisierung und der aus dieser resultierende höhere Konkurrenzdruck, die Beschleuniguing des täglichen Lebens durch Mobilfunk und Internet und nicht zuletzt die Dauerberieselung durch die Medien schaffen ein stetig zunehmendes Lebenstempo, das zwar auch meist eines höheren Sinns entbehrt, doch auf keinen Fall mit der scheinbar ewigen Gleichförmigkeit des Lebens auf den russischen Gütern zu vergleichen ist. Die Transponierung über die Sinnsuche gibt das Stück nicht her, da es in diesem von Anfang weder den Sinn noch die Suche danach gibt. Nur Astrow versucht so etwas wie höhere Ziele für sein Leben zu definieren, ist daran jedoch schon zu Beginn des Stücks gescheitert. Der Professor, Dreh- und Angelpunkt des bisherigen Lebens auf dem Gut, ist als Phrasen dreschender Hohlkopf entlarvt, der den Lebenssinn in seiner eigenen vermeintlichen Bedeutung sieht. Wanja hat den Sinn seines Tuns stets darin gesehen, dem ruhmvollen Leben von Schwester und Schwager den notwendigen materiellen Rahmen zur Verfügung zu stellen: ein klassischer „Ersatzsinn“.

Christina Kühnreich (Jelena Andrejewna), Diana Wolf (Sofja Alexandrowna), Harald Schneider (Iwan Petrowitsch Wojnizkij)

Christina Kühnreich (Jelena Andrejewna), Diana Wolf (Sofja Alexandrowna), Harald Schneider (Iwan Petrowitsch Wojnizkij)

So bleibt mangels ausreichender bleibender Aussage die Feststellung, dass hier ein Stück Theatergeschichte zelebriert wird man zeigt, wie traurig es im Russland Tschechows zuging. An sich nicht die schlechteste Ausgangsbasis, denn Theater versteht sich zwar als Thematisierung aktueller Probleme aber durchaus auch als ein Stück Kulturgeschichte. Diese Aufbereitung Tschechows aus seinem Zeitverständnis heraus geht dabei durchaus – wennn auch nicht durchgehend – mit ansprechenden schauspielerischen Leistungen einher. Harald Schneider spielt einen todunglücklichen, innerlich zerrissenen Wanja, der die Ungerechtigkeit der Welt nicht mehr versteht, an ihr verzweifelt und natürlich auch bei dem Versuch, Rache zu üben, scheitert. Doch Wanja gewinnt bei ihm menschliche Struktur und Glaubwürdigkeit. Äuch Diana Wolf gelingt es, der verhuschten Sonja in ihrer Aussichtslosigkeit eine gewisse Würde zu verleihen, die gerade im Erdulden des verrinnenden Lebens liegt. Klaus Ziemann dagegen hätte dem Professor durchaus mehr Borniertheit und Selbstgefälligkeit mitgeben können; bei ihm kommt diese Person trotz ihres Parasiten-Charakters zu gut weil zu unauffällig weg. Auch Tom Wild verleiht dem Arzt Astrow eher Züge des Bonvivants als des an der Erstarrung der Welt Verzweifelnden. Sein Astrow greift ein wenig zu schnell zum „willigen Wässerchen“ und stellt die Revolutionärsfahne etwas zu frühzeitig in den Schrank. Wie auch Jeléna ist Astrow die einzige Figur mit einer echten Alternative – politisch wie privat – doch einen inneren Kampf um diese Alternativen mag man nicht erkennen. Christina Kühnreich steigt da schon etwas tiefer in die Jeléna ein. Bei ihr entdeckt Jeléna durchaus ihre Alternativen, und wo Wilds Astrow nur die schnelle Umarmung will, denkt sie kurzfristig an die Trennung von Serebrjakow. Doch die gesellschaftlichen Zwänge und die Angst vor dem Skandal überwiegen und bestimmen letztlich ihre Handlungsweise. Christina Kühnreich gelingt dieses Schwanken zwischen innerer Sehnsucht und dem zwang zur Konformität recht glaubwürdig, und ihre Jeléna geht als innerlich gezeichnete Frau von der Bühne, wenn auch nicht unbedingt seelisch gereift.

Das Premierenpublikum zeigte sich angetan aber nicht mitgerissen, was jedoch zum großen Teil dem statischen Stück zuzuschreiben ist, das keine wirkliche Entwicklung der Charaktere erlaubt. Freundlicher Beifall für das Ensemble – vor für allem Harald Schneider und Diana Wolf – und für die Regie.

Frank Raudszus

Alle Fotos © Barbara Aumüller

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