Das Burgtheater Wien zeigt bei den Wiesbadener Maifestspielen Anton Tschechovs „Onkel Wanja“.
Bereits die erste Szene bringt in einer Art „Trailer“ die Kernaussage des Stücks zum Ausdruck. Vor einer schäbigen Stallwand, die eher einer Garagenlandschaft einer heruntergekommenen Vorstadt gleicht, zieht sich eine die Bühne ausfüllende Hausfassade aus Fenster- und Türöffnungen hin, durch die die Darsteller auf die Vorderbühne treten. Hinten sitzt Iwan Petrowitsch (Nicholas Ofzcarek), genannt Wanja, an einer Biertisch-Garnitur, den vom Abend noch alkoholschweren Kopf auf der Tischplatte. Vorne stochert der Arzt Michail Lwowitsch Astrow (Michael Maertens) ziellos auf der Bühne auf und ab, offensichtlich ohne klares Ziel und ohne Kommunikation. Ein paar belanglose Worte mit der alten Kinderfrau Marina, doch ohne innere Beteiligung. Dann knallt es hinter der Fassade, der Professor Alexander Serebrjakow stürzt in Panik auf die Bühne, einen Stuhl als Schutz vor sich haltend, seine Frau folgt ihm in innerer Auflösung, und Wanja steht mit verzweifeltem Gesichtsausdruck und rauchendem Gewehr an der Fassadenwand. Selbst der heroische Mord will ihm nicht gelingen. Diese Szene könnte man auch als Traum des dahindämmernden Wanja auffassen.
Schnitt. Dann beginnt das eigentliche Stück in der korrekten chronologischen Anordnung. Wanja erklärt dem von Zeit zu Zeit auf dem Gut auftauchenden Astrow – und natürlich dem Publikum – die Situation. Er hat als ältester Sohn jahrelang das Gut geführt und selbst auf jegliche eigene Ambitionen verzichtet, um dem Mann seiner Schwester eine akademische Karriere zu ermöglichen. Der ist nach dem Tod seiner Frau und seiner Emeritierung mit seiner zweiten, jungen und schönen Frau Elena (Caroline Peters) auf das Gut gezogen, da das Geld für ein angemessenes Stadtleben nicht reicht, und hat durch seinen Tagesablauf die übliche Routine auf dem Gut durcheinandergebracht. Wanja hat seinen Schwager lange Zeit grenzenlos verehrt, beginnt ihn jetzt aber eher als Parasit zu betrachten, der nichts wirklich Großes geleistet hat, vom Gegenstand seiner Forschungen – Kunst! – in Wahrheit nichts versteht und sich die Finanzierung seines Lebens nur durch die immer noch ungebrochene Verehrung seiner Schwiegermutter Maria (Barbara Petritsch) und seiner Tochter Sofja gesichert hat. Wanja kommt gegen die beiden Frauen in seinem Haus nicht an, die weiterhin ihr Leben dem großen Professor widmen.
Diese Grundkonstellation hat zu einer alles dominierenden Lethargie geführt. Der Professor verbringt die Nächte arbeitend und die halben Tage schlafend und zwingt dem Haus seinen Rhythmus auf, nicht ohne auf die mangelnde intellektuelle Höhe und die nie ausreichende Wertschätzung seiner Person in ebenso gewählten wie sarkastischen Worten hinzuweisen. Hier ist jemand vom Olymp zur einfachen Verwandschaft hinabgestiegen, doch die Leute können immer noch an eigene Befindlichkeiten denken!
Das erste brisante Problem ergibt sich aus Wanjas unstillbarer Liebe zu Elena. Seine so ungeschickten wie rührenden, vom Alkohol befeuerten Liebesbeteuerungen berühren Elena peinlich, und sie versucht, Wanja mit allen möglichen psychologischen Tricks aus dem Wege zu gehen – natürlich erfolglos. Dagegen weckt der verbitterte Astrow, der in der tagtäglichen Arbeit geradezu untergeht und seine ärztlichen Bemühungen bei den einfachen und unverständigen Landbevölkerung mehr und mehr als Fehlschlag erkennt, ihr Interesse, gerade, weil er keine Annäherungsversuche unternimmt.
In Astrow beschreibt Tschechov den idealistischen, aber desillusionierten Intellektuellen, der in dem Russland des späten 19. Jahrhunderts keine Zukunft mehr sieht. Das Land ist zweigeteilt in eine kleine Oberschicht der Gutsbesitzer, die außer der Verwaltung ihrer immer schlechter gehenden Güter keine persönlichen Perspektiven mehr haben, und die breite Masse der armen Bauern, die nur um das Überleben kämpfen und keine Chance auf Bildung und Aufstieg haben. Obwohl die Probleme des Landes offen zutage liegen, ändert sich nichts, sondern das ganze Land ist in eine tiefe Apathie des „immer weiter so“ verfallen. Serebrjakov stellt die andere Gruppe der Intellektuellen dar, die es gelernt haben, sich die Lage zunutze zu machen, indem sie ohne Rücksicht auf andere Karriere machen und die Ehrerbietung der einfacheren Schichten – bis hin zu den intellektuell weniger ambitionierten Gutsbesitzern – skrupellos zur Festigung ihrer eigenen gesellschaftlichen Stellung nutzen. Serebrjakow ist deswegen nicht der ausgefuchste Bösewicht, der zu Recht den Abscheu des Publikums weckt, sondern er betrachtet sich mit vollem Recht als führende Persönlichkeit des Landes, dem der Respekt – und damit die Unterstützung – der anderen Schichten zusteht. Er kann persönlich sehr charmant und sogar großzügig sein, wenn man ihn entsprechend hofiert.
Wanja wiederum ist im Herzen der depravierte Kleinbauer, der sich mit der Größe des Verwandten identifiziert und darüber eine eigene Identität aufbauen will. Angesichts Serebrjakovs selbstgefälligen Verhalten jedoch wird er innerlich zum Revolutionär, dem es auf dem einsamen Gut nur an den Gesinnungsgenossen fehlt. Astrow könnte ein solcher sein, und er prangert auch den gedankenlosen Raubbau an der Natur mit den entsprechenden klimatischen Folgen an – eine unüberhörbare Anspielung auf aktuelle Probleme -, doch er ist innerlich müde und bereits auf dem Wege zum Alkoholiker aus Frustration.
Der Konflikt entsteht aus zwei Ereignissen. Als Wanja zufällig eine Szene zwischen Elena und Astrow mitbekommt, bei der die beiden sich der gegenseitigen erotischen Anziehung nicht erwehren können – und wollen -, bricht für ihn eine Welt zusammen. Kurz danach ruft Serebrjakow in der gefühlten Rolle des Familienoberhaupts – in Wirklichkeit ist er nur der Witwer von Wanjas Schwester! – eine Familienversammlung ein, in der er erklärt, er könne das Landleben nicht aushalten und schlage den Verkauf des Gutes vor, da die Anlage des Geldes mehr Zinsen bringe als das Gut an Gewinn abwirft. Das Recht zu diesem Vorschlag leitet er aus der Tatsache ab, dass seine Tochter Sofja letztlich als Erbin des Gutes eine langfristige Perspektive haben müsse. In Wahrheit geht es ihm um seinen Lebensstil in der Stadt, und er denkt keinen Augenblick darüber nach, dass Wanja sein Leben mit diesem Gut identifiziert und dass auch Sofja über Jahre ihr Jungmädchen-Dasein mit Verwaltungsarbeiten zugebracht hat. Für Serebrjakow sind die Menschen um ihn herum nur austauschbare Funktionsträger.
Doch für Wanja bringt dieser Vorschlag das Fass zum Überlaufen. Erst protestiert er lauthals und teilweise konfus gegen den verständnislos und scheinbar tolerant reagierenden Serebrjakow, als er jedoch erkennt, dass dieser sich überhaupt nicht in seine Mitmenschen hineinversetzen kann und in geradezu großherziger Selbstbezüglichkeit alles nur aus seiner persönlilchen Befindlichkeit beurteilt, brennt bei ihm die letzte Sicherung durch, und er greift zum Gewehr. Dass er Serebrjakow zwei Mal verfehlt, führt ihn zu der bitteren Erkenntnis, dass er, der einst so hohe Erwartungen an das Leben hatte, selbst zu einem – technisch – einfachen Mord nicht in der Lage ist.
Sofja selbst ist die einzig wirklich tragische Figur. Sie liebt heimlich den Arzt Astrow, der sie jedoch wegen ihrer Unansehnlichkeit nur als freundlichen Menschen schätzt. Weit und breit gibt es für Sofja keinen standesmäßigen Partner; sie kann ihre überschüssigen emotionalen und erotischen Energien nur auf Astrow richten. Als Elena ihr nach dem eigens zur Klärung von Astrows Gefühlen für Sofja eingefädelten und ausgerechnet mit der erwähnten Intimität endenden Gespräch mitteilt, dass Astrow nichts für sie empfinde, bricht auch für sie die letzte Hoffnung auf ein erfülltes Leben zusammen.
Am Ende reisen der Professor mit seiner Frau ab, die sich nur unter inneren Kämpfen von dem scheinbar gleichgültigen Ástrow trennen kann, und auch dieser verlässt das Gut, nicht zuletzt, um Sofja nicht länger leiden zu lassen. Zurück bleiben Wanja, Sofja und die alte Kinderfrau, und ausgerechnet Sofja muss ihm gut zureden, dass man so weiter machen werde wie immer, dass das Leben irgendwann von selbst enden werde und man bis dahin einfach leben müsse, ohne große Ziele und Visionen. Ähnliches hatte auch schon Astrow vor seiner Abreise zu dem verzweifelten Wanja gesagt: sie beiden seien hier einst die einzigen zivilisierten Menschen gewesen, dann aber innerhalb von zehn Jahren auch zu üblichen Spießern geworden. Nun heiße es einfach weiterzumachen und das Leben im alten Trott zu Ende zu bringen.
Eine Figur gibt es noch, die wie ein „runnig gag“ durch das ganze Stück läuft und die ganze Misere der russischen Gesellschaft in sich verkörpert: Ilja Iljitsch Telegin, ein ehemaliger Gutsbesitzer, der auf dem Gut als geduldeter Esser lebt, aber außer kleinen Handreichungen nichts zum Gedeihen der Gemeinschaft beiträgt. Während alle anderen noch irgendwelchen Hoffnungen anhängen oder letzte Zuckungen von Visionen spüren, hat er das Nichtstun und die Lethargie längst als Normalzustand verinnerlicht, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu empfinden. An dieser Figur zeigt Tschechov den wahren Grund für den Abstieg der russischen Gesellschaft. Telegin leidet nicht, es geht ihm gut. Die anderen jedoch leiden unter den Verhältnissen, können aber nichts ändern, weil sie in ihrer Welt gefangen sind. Sie sind die tragischen Figuren. Nur die Kinderfrau fällt mit ihrer einfachen Güte, ihrer Anspruchslosigkeit und ihrem Glauben aus dem Rahmen und bewahrt den letzten Funken Hoffnung.
Angela Schalenec und Arina Nestieva haben Tschechovs Stück neu übersetzt und in einen heutigen Sprachduktus überführt. Dadurch verlieren die Figuren den in alten Übersetzungen leicht altertümelnden Charakter und werden zu Menschen unserer Zeit aus Fleisch und Blut. Der leicht berlinernde Tonfall von Michael Mertens (Astrow) wirkt dann nicht fehl am Platze sondern geradezu authentisch. Großartig auch das souveräne, grandseigneurhafte Schwadronieren des Professors, das durchaus Parallelen zu redesüchtigen Intellektuellen unserere Zeit aufweist. Jede Formulierung könnte heutigen Dialogen vergleichbarer sozialer Schichten entnommen sein. Auf der anderen Seite wirkt selbst Sofjas backfischhafte Verzweiflung keinen Augenblick lächerlich oder gar peinlich.
Aber erst die Darsteller lassen diese Inszenierung zu einem Erlebnis werden, das sich nicht mit dem Schlussapplaus verflüchtigt. Das liegt nicht nur daran, dass die wichtigsten Rollen gleichstark akzentuiert und gewichtet sind, sondern auch daran, dass bis in die Nebenrollen hinein jede Geste, jede Gesichtsregung und jeder Satz stimmen. Peter Simonischek, der an diesem Abend als Professor Serebrjakow für Gerd Voss einsprang, verlieh dieser Figur die Ambivalenz des von sich überzeugten „Groß-Akademikers“, der durchaus Format aufweist, aber in seiner Selbstgezüglichkeit gar nicht auf die Idee kommt, er könne andere verletzen. Ebenso fällt ihm natürlich im Traum nicht ein, seine junge Frau könne ihm untreu werden. Schließlich kann sie froh sein, einen derart außergewöhnlichen Menschen zum Gatten bekommen zu haben. Simonischek zieht alle Register des Weltmannes und Charmeurs, der konsequent alle Entscheidungen auf vermeintlich großherzige Weise trifft. Irgendwie kann man ihm trotz seiner Egomanie nicht böse sein.
Neben ihm lässt Caroline Peters Serebrjakows junge Frau Elena sich zu einer zerrissenen Persönlichkeit entwickeln, die während der Zeit auf dem Gut die Schwächen ihres alternden Mannes bemerkt und ihre eigenen Bedürfnisse entdeckt. Sie schwankt bis zum Schluss zwischen Pflicht und Neigung, zwischen den Annehmlichkeit eines akademisch gehobenen Lebens und der Unsicherheit der möglichen Alternativen, folgt dann aber ihrem Mann, da Astrow nicht die von ihr erhoffte Initiative ergreift. Caroline Peters bringt die Wandlung von der selbstsicheren und selbstbezüglichen schönen Frau zu einer unsicheren weil zweifelnden Frau auch in Mimik und Gestik überzeugend zum Ausdruck.
Nicholas Ofzcarek verleiht dem Wanja von Anfang an die Zerrissenheit des Enttäuschten und innerlich Aufbegehrenden, in dem jedoch die Wut über die Ausbeutung mit der Zärtlichkeit der hoffnungslosen Liebe dauerhaft im Streit liegt. Man empfindet dieses Auseinanderfallen der Persönlichkeit geradezu körperlich, wenn sich Ofzcareks Wanja geradezu in seelischen Krämpfen windet und nur selten die richtigen Worte findet, um sein Seelenleben sich selbst und anderen zu erklären.
Sarah Viktoria Frick ist eine wunderbar verhuschte und doch stets präsente Sofja, die ihre Ängstlichkeit und erotische Unsicherheit zu meistern und zu kaschieren versucht, wo es geht, und doch vor Astrow dahinschmilzt oder Elena ihre ganze Liebespein gesteht. Sarah Frick bringt die seelische Berg- und Talfahrt und die überraschende Entsagung am Schluss berührend zum Ausdruck.
Michael Maertens gibt den Astrow als desillusionierten Freidenker, der trotz aller Sarkasmen sich bis zum Schluss einen fast schwarzen Humor bewahrt. Seine trockenen Bemerkungen kommen wie gemeißelte Aphorismen über seine Lippen, jedoch ohne jegliche Überhöhung oder Pathos. Und dieser Astrow liebt trotz allem die Menschen, einschließlich Sofja, und Elenas erotische Anziehung lässt er auf sich einwirken, aber schließlich unbeantwortet, da er auch hier keine Zukunft sieht. Sein Vorschlag, sich heimlich zu treffen – und vielleicht sogar gemeinsam durchzubrennen, gilt mehr ihrer Erwartungshaltung als einer tatsächlichen persönlichen Zukunftsvorstellung.
Barbara Petritsch verleiht Wanjas Mutter Maria auch ohne viele Worte den Charakter einer in ihrer kompromisslosen Verehrung des Schwiegersohnes erstarrten Frau, die keine Gegenargumente duldet, Branko Samarovski ist ein so devot-unauffälliger wie dauerpräsenter Telegin, und Elisabeth Orth gibt der Kinderfrau Maria eine bodenständige Güte mit, die sich alle Aufgeregtheiten und Enttäuschungen der anderen Figuren vom Leibe hält.
Regisseur Matthias Hartmann hat in dieser Inszenierung neben der Sprache auch nonverbale Elemente betont. Dazu gehört Sofjas hektisches und erwartungsfreudiges Ordnen ihrer Kleidung vor einem Gespräch mit Astrow, das die ganze Befindlichkeit dieses verliebten Mädchens ausdrückt, ebenso wie die beobachtenden Pausen bei Astrow, der etwa Elenas abwehrenden Worten nur zuhört und sie ansieht, bis sie in sich zusammenfällt und sich ihre Zuneigung zu ihm eingesteht. Serebrjakow wiederum lebt nicht nur von seinen geschmeidigen Sätzen, sondern Peter Simonischek verleiht ihm auch alle die körpersprachlichen Attribute eines Selbstdarstellers, angefangen vom großen Auftritt vor (kleinem) Publikum, seine ausholenden, Aufmerksamkeit einfordernden Armbewegungen und sein fast schon aufgesetztes Husten, mit dem der Professor nicht nur den Hustenreiz beantwortet sondern auch achtungsgebieterisch Respekt vor Alter und „Leiden“ einfordert. Wanja kommuniziert sowieso vorrangig über Körpersprache mit seiner Umwelt, und Nicholas Ofzcarek macht daraus fast schon einen Kult. Barbara Petritsch schafft es, den Charakter der Maria weitgehend ohne Sprache wiederzugeben.
Matthias Hartmann und seinem Ensemble ist bei dieser Inszenierung das Kunststück gelungen, die für Tschechov typische Lethargie in Spannung umzusetzen, woraus sich das Paradoxon ergibt, das die Langeweile auf der Bühne eine permanente Spannung entwickelt, die sich schließlich in der einzigen Gewaltszene entladen muss.
Das Publikum im ausverkauften großen Haus war begeistert und spendete lang anhaltenden Beifall.
Frank Raudszus
Zum Vergleich: Inszenierung von „Onkel Wanja“ 2008 am Staatstheater Darmstadt.
Alle Fotos (c) Reinhard Werner
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