Fiebriger Verfall der Wohlanständigkeit

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Das Staatstheater Wiesbaden gastiert in Darmstadt mit Yasmina Rezas „Der Gott des Gemetzels“.

Sieht man ein Stück zum zweiten Mal auf einer anderen Bühne, mit anderen Darstellern und anderem Bühnenbild, so ergibt sich die reizvolle Gelegenheit des direkten Vergleichs. Gleichzeitig erübrigt sich für den Rezensenten die Darstellung der Handlung, wenn die erste Rezension noch verfügbar ist. Wir verweisen daher hinsichtllich der Handlung auf den Bericht über die Inszenierung des Münchner Residenztheaters und wollen uns hier auf die Inszenierung des Wiesbadener Schauspiels konzentrieren.

Monika Kroll (Véronique), Doreen Nixdorf (Annette), Michael Günther (Michel), Lars Wellings (Alain)

Monika Kroll (Véronique), Doreen Nixdorf (Annette), Michael Günther (Michel), Lars Wellings (Alain)

Schon beim Bühnenbild zeigen sich deutliche Unterschiede. Setzen sich in München die beiden Paaren auf einer standesgemäßen Couchgarnitur zum vermeintlich klärenden Gespräch zusammen, so verzichtet die Wiesbadener Version weitgehend auf Mobiliar. Wie in einer verschärften Version des alten Spiels „Die Reise nach Jerusalem“ steht hier den vier Protagonisten nur ein Stuhl – kein bequemer Sessel! – zur Verfügung. Während in München der Konflikt aus der scheinbar abgeklärten, zivilisierten Konversation förmlich herausbricht und die gutbürgerliche Harmonie als bloßen Schein entlarvt, exisitiert diese in Wiesbaden schon zu Beginn nicht mehr. Die vier Personen stehen ziellos und verloren auf der offenen Bühne herum und suchen in der nicht vorhandenen Couchgarnitur verzweifelt eben den Ankerpunkt, den sie in ihrem Leben längst verloren haben. Michel und Véronique sind eben nicht das politisch korrekte und gemeinschaftlich engagierte Paar, das gerade Véronique gerne in den Vordergrund stellen möchte, sondern zerfallen in die egozentrische, auf moralische Unfehlbarkeit fokussierte Ehefrau und einen Ehemann, der ihre Überlegenheitsattitüde seit Jahren in wachsender Wut ertragen hat. Auf der anderen Seite sind Annette und Alain durchaus nicht das intelligente, akademische Vorzeigepaar, das sie so gerne wären, sondern Annette geht Alains aufgesetztes Machotum schon seit langem auf die Nerven und dieser hasst alles, was sich unter seinem vermeintlichen sozialen Status bewegt. Während Annette sich und ihren Mann durch den Versöhnungsbesuch bei den Houillés gerne als weltgewandtes, großzügiges Paar darstellen möchte, verachtet Alain die Verlierer. Denn nachdem sein Sohn dem anderen Sprössling zwei Zähne ausgeschlagen hat, gehört er zu den Siegern und jener zu den Verlierern, und seine Eltern ebenfalls. Mit solchen Leuten will Alain seine kostbare Zeit nicht vergeuden. Regisseurin Ricarda Beilharz macht durch ihr „schutzloses“ Bühnenbild von vornherein klar, dass hier auch nicht der Anschein einer im wahrsten Sinne des Wortes abgeklärten Bürgerlichkeit besteht. Von der ersten Szene an herrscht eine fiebrige, emotional aufgeladene Atmosphäre, und die Darsteller streifen wie Raubtiere in einem Käfig an den Wänden der Bühne entlang, Angriffsposition und Fluchtweg gleichermaßen suchend.

Michael Günther, Doreen Nixdorf, Lars Wellings

Michael Günther, Doreen Nixdorf, Lars Wellings

Auch die einzelnen Rollen erfahren in dieser Inszenierung eine etwas andere Interpretatiion, was nicht nur – banalerweise – an den anderen Schauspielern liegt. Doreen Nixdorf spielt die Annette im Gegensatz zu Sunnyi Melles nicht als desillusionierte Frau mit Erfahrung, die sich in Zynismus flüchtet, sondern als junge, temperamentvolle Frau, deren Enttäuschung über ihr Leben an der Seite des einseitigen Karrieristen in einen verzweifelten Hilfeschrei mündet. Diese Annette bleibt bis zum Schluss eine junge, lebenshungrige Frau, deren Lebensträume arg gerupft wurden. Véronique Houillé ist bei Monika Kroll zwar auch die moral- und bildungsbesessene Gerechtigkeitsfanatikerin, doch spröder und in sich verschlossener als ihr Pendant in der Münchner Inszenierung. Michel kommt bei Michael Günther als gutmütiger Praktiker daher, der sich bei den Reilles nicht aus Unterwürfigkeit und Unsicherheit anbiedert, sondern weil er Streit hasst und Konflikte nicht über das ihnen zustehende Maß hinaus aufblähen will. Dieser im Grunde genommen bodenständige Michel rastet im Laufe des Abends buchstäblich aus und überschüttet seine Frau mit einer Brülltirade, die den gesamten aufgestauten Groll von Jahren oder gar Jahrzehnten freisetzt. Nur Alain (Lars Wellings) ist in beiden Inszenierungen nahezu identisch. Das liegt jedoch offensichtlich daran, dass er die einzige Figur ist, die in dem Stück keine Wandlung durchmacht. Er bleibt sich in seiner Eindimensionalität bis zum Schluss treu und strahlt eine durchgehende Kälte der Gleichgültigkeit gegenüber seiner Umwelt aus. Wenn am Schluss die drei anderen reinen Tisch gemacht haben und ihren gesamten Frust über das (nicht) gelebte Leben aus sich herausgeschrien und -gekotzt haben, steht er nur verloren auf der Bühne, weil ihm seine eigene Frau das Handy zerstört hat.

Ricarda Beilharz‘ Inszenierung verzichtet bewusst auf die filigranen Elemente einer intellektuellen Psycho-Farce (oder psychologischen Intellektuellen-Farce) und setzt eher auf deutliche Emotionen. Das mag auf der Erkenntnis beruhen, dass menschliche Konflikte nur in Komödien mit dem Florett des geistreichen Wortes ausgefochten werden und im realen Leben meist mit lautstarken und irrationalen emotionalen Ausbrüchen verbunden sind. Sie holt die intellektuelle Vorlage von Yasmina Reza auf diese Weise auf den Boden der menschlichen Tatsachen zurück. Diese Interpretation verleiht der Inszenierung so etwas wie eine negative menschliche Wärme, während in der Münchner Aufführung mehr die Kälte des schneidenden Arguments überwog. Beide Sichtweisen haben ihre Berechtigung, solange sie konsequent durchgehalten werden. Das war in München und ist in Wiesbaden der Fall, und so entfalteten beide Inszenierungen eine starke Wirkung.

Das Darmstädter Publikum zeigte sich denn auch stark beeindruckt und spendete den Akteuren langen, kräftigen Beifall.

Weitere Aufführungen am 22. Januar, 17. Februar sowie am 4., 21. und 25. März.
Frank Raudszus

Alle Bilder © Martin Kaufhold

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