Große Oper zum Saisonende

Print Friendly, PDF & Email

Arturo Martín (Pinkerton), Susanne Serfling (Cio-Cio-san)

John Dew inszeniert in Darmstadt Giacomo Puccinis Oper „Madame Butterfly“

Seit die Oper nicht mehr der reinen Unterhaltung sondern der kritischen gesellschaftlichen Aufklärung dient oder zumindest dienen soll, steht die Frage nach der Aktualität einer Inszenierung im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion. Eine „naive“ Wiedergabe eines Librettos aus eines vergangenen Epochen erscheint vielen Intendanten, Regisseuren und Kritikern geradezu degoutant, während das Publikum diesem Thema sicher etwas entspannter gegenüber steht. Die Interpretation einer Oper oder eines Schauspiels nur aus seiner Entstehungszeit heraus erscheint vielen als abgestanden und ohne jeglichen Aussagewert. Das führt leider oft zu verkrampften Aktualisierungen, bei denen man dann irgendwelchen Soldaten des 18. oder 19. Jahrhunderts Hakenkreuzbinden an die Ärmel klebt.

John Dew dagegen ist kein Freund vordergründiger Aktualisierungen und belässt die Opern gerne in ihrem jeweiligen Kontext. Politische Puristen werfen ihm dies gern als Anbiederung an einen vermeintlich unpolitischen Publikumsgeschmack vor, doch dieser Vorwurf greift in den meisten Fällen zu kurz. Seine Inszenierungen leben im und aus dem jeweiligen Zeitkolorit und zeigen gerade durch diese fast natürliche Bindung an ihren Entstehungskontext, dass bestimmte gesellschaftliche und psychologische Konflikte zeitlos sind.

Puccinis „Madame Butterfly“ ist ein besonders deutliches Beispiel für diesen Verzicht auf eine spektakuläre Aktualisierung. Was hätte ein anderer Regisseur aus dem Tripel „Japan, USA, Nagasaki“ gemacht? Ein Atompilz auf der Bühnenrückwand wäre das Mindeste gewesen, obwohl dieses Thema schwer mit dem Libretto vereinbar ist. John Dew dagegen eröffnet eine traditionelle, fast schon klischeehafte Sicht auf das Japan des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Bühnenbildner Heinz Balthes hat eine wandfüllende Fotografie einer japanischen Küstenlandschaft – es mag tatsächlich die Bucht von Nagasaki sein – in abgedunkelter Kontrastdarstellung an die Rückwand der Bühne geworfen. Die zarten Zweige der Bäume entsprechen ganz der üblichen japanischen Darstellung. Den Vordergund der Bühne gestaltet Balthes durch verschiebbare Wände variabel, die jeweils ein japanisches und ein amerikanisches Motiv im japanischen Stil wiedergeben: eine Szene mit japanischen Geishas und einem kostümierten Tänzer sowie das amerikanische Kanonenboot „Abraham Lincoln“ in bewegter See. Damit schafft Balthes einen spannungsreichen Bezug zwischen (japanischer) Naturidylle und artifiziellem Überbau. Wer will, kann hierin auch den Kontrast zwischen der Jahrhunderte alten, durch die Insellage konservierte Kultur Japans und der modernen Welt der USA sehen. Doch fehlt in diesem kontrastreichen Bild jeglicher Bezug auf die Gegenwart und ihren prekären historischen Hintergrund.

Susanne Serfling (Cio-Cio-san), Damen des Chores

Susanne Serfling (Cio-Cio-san), Damen des Chores

Das Libretto enthält auch so genügend gesellschaftlichen Sprengstoff, stellt es doch die geradezu hilflos naive Welt einer jungen japanischen Frau – besser eines jungen Mädchens – der kosmopolitisch-unverbindlichen Welt des „modernen“ Westens gegenüber. Bereits im ersten Akt stellt Puccini ganz klar die Weichen: Cho-Cho-San, genannt Butterfly, stammt aus einem ehemals reichen, mittlerweile verarmten Geschlecht und glaubt an das „Gute, Schöne, Wahre“, vor allem die Liebe. Sie bewundert die Amerikaner mit ihrem offensichtlich mächtigeren Gott, der sich in Macht und Omnipräsenz seiner Schutzbefohlenen zeigt, und unterwirft sich vollständig ihrem künftigen Mann. Dieser, der Marineleutnant Pinkerton, betrachtet die Ehe jedoch nur als vorübergehenden Zeitvertreib in einem eher pittoresken Puppenstuben-Land, wo man erotische Beziehungen beliebig ein- und ausschalten kann. Dies lässt er den vermittelnden und ihn warnenden Konsul Sharpless auch deutlich spüren. Selbst wer völlig unbedarft und unvorbereitet in diese Oper geht, weiß nach dem ersten Akt, dass die Geschichte tragisch enden wird.
Im zweiten Akt gestaltet Puccini denn auch mit hoher Intensität das Warten Butterflys auf die Rückkehr von Pinkerton, der sie mit einigen Versprechungen des Wiedersehens verlassen und sie längst vergessen hat. Den Versuch des Konsuls, ihr auf Pinkertons Bitten vorsichtig die Wahrheit über Pinkertons amerikanische Eheschließung mitzuteilen, ignoriert Butterfly mit euphorischen Unterbrechungen und Umdeutungen seiner gewundenen Worte. Erst ihre unerwartete Präsentation eines Kindes aus der Beziehung lockt Pinkerton wieder nach Nagasaki, aber nicht, um reumütig zu Butterfly zurückzukehren, sondern um das Kind aus dem völlig verarmten Haushalt Butterflys in die USA zu holen. Als Butterfly die Situation erfasst hat, geht es ihr nicht mehr um den Besitz ihres Kindes sondern nur noch um die persönliche Schmach und Demütigung. Ihr Glaube an die Welt und die Liebe ist in einem Augenblick zerstört worden, und so bleibt ihr noch der Freitod.

Susanne Serfling (Cio-Cio-san)

Susanne Serfling (Cio-Cio-san)

Diese im Grunde genommen einfache und geradezu zwangsläufige Geschichte hat Puccini in Musik höchster Intensität umgesetzt. Der Konflikt zwischen den Kulturen bildet bei ihm den Rahmen, das tragische Schicksal einer bedingungslos liebenden und betrogenen Frau den Kern der Handlung. Stehen im ersten Akt noch ein unerschütterlicher Optimismus, der Glaube an die Liebe und die Bewunderung einer anderen Lebensart im Vordergrund, so herrscht im zweiten Akt erst das quälende Warten, dann die Verzweiflung vor. Puccini beschreibt das nächtliche Warten Butterflys auf Pinkerton, der mit seinem Schiff bereits eingelaufen ist, aber nicht bei ihr erscheint, mit einem langen Zwischenspiel ohne Gesang. Diese Musik setzt das einerseits geduldige, andererseits quälende Warten in so beklemmende wie hoffnungsträchtige Klangbilder um. Hoffnung und Vorfreude sind darin ebenso enthalten wie der nagende Zweifel und eine existenzielle Unruhe. John Dew lässt während des gesamten Zwischenspieles Butterfly mit ihrer Dienerin Suzuki und ihrem kleinen Sohn mit Blick auf die Seelandschaft knien, und die Beleuchtung zaubert dazu unterschiedliche Tages- und Nachtzeiten auf das Hintergrundbild und die Schiebewände.

Auch auf andere Weise lässt Puccini die Musik sprechen. So schafft er durch pentatonische Einrückungen eine fernöstliche Atmosphäre, und die amerikanische Nationalhymne lässt er mehr als einmal in unterschiedlichen Klangversionen erklingen, wobei einige dieser Variationen deutlich karikierende und damit kritische Züge annehmen. Das musikalische Ende naht dann unerwartet und plötzlich mit einem einzigen Akkord, der wie ein Schlag wirkt. Das ist der Moment, als Pinkerton erscheint und von der sterbenden Butterfly nur noch ein letztes, zartes Winken der Hand erfasst.

Die Inszenierung ist weitgehend auf die Rolle der Butterfly zugeschnitten. Susanne Serfling spielt die Hauptrolle mit einer Glaubwürdigkeit, die angesichts der Nähe dieser Figur zum sentimentalen Klischee nicht hoch genug einzuschätzen ist. Man nimmt ihr das junge, noch unerfahrene und an das Gute im Menschen glaubende Mädchen in jeder Phase der Handlung ab. Die beginnende und lange verdrängte Erkenntnis der tatsächlichen Situation spiegelt sich nicht nur in Susanne Serflings Mienenspiel wider, sondern auch und vor allem in ihrer Stimme. Diese Rolle scheint ihr auf den Leib geschrieben zu sein. Sowohl die lyrischen Passagen als auch die dramatischen der Verzweiflung meistert sie mit Bravour. Ihre Stimme zeichnet sich durch Klarheit und Fülle aus und beherrscht in den zentralen Szenen die gesamte Bühne. Neben ihr kann sich jedoch Erica Brookhyser als Suzuki gut behaupten. Durch präsentes, aber nie forciertes Spiel und eine überzeugende gesangliche Leistung verleiht sie dieser Figur zusätzliche Kontur und verbreitert damit das Spektrum weibllicher Rollen in dieser Oper. Durch ihre Leistung entlastet sie auch Susanne Serfling ein wenig von der Schwere der Hauptrolle, die ununterbrochene Bühnenpräsenz erfordert.

1206_madame_butterfly_04

Arturo Martín (Pinkerton), Susanne Serfling (Cio-Cio-san)

Der Tenor Arturo Monti singt und spielt die Rolle des Leutnant Pinkerton. Sein Spiel zeigt diese Figur deutlich als leichtlebigen, verantwortungslosen und fast etwas zynischen jungen Mann, der andere Kulturen als grundsätzlich minderwärtig betrachtet. Stimmlich überzeugt Monti vor allem in den hohen Lagen mit Klarheit und Sicherheit, während er in tieferen Lagen – eher etwas problematisch für Tenöre – bisweilen gegen das Orchester an Durchsetzungskraft verliert. Oleksandr Prytolyuk gibt einen stimmstarken und bühnensicheren Konsul Sharpless, Peter Koppelmann einen verschlagenen und liebedienerischen Heiratsvermittler Goro. Thomas Mehnert tritt nur einmal als Onkel Bonze auf, dann aber furios und stimmgewaltig. Werner Volker Meyer singt den alternden Verehrer Yamdori, der im echten Oldtimer-Auto auf die Bühne kommt, und Anja Vincken Pinkertons Ehefrau.

Der Chor tritt in dieser Oper eher sparsam auf und beschränkt sich auf die Szene der zu Butterflys Eheschließung gratulierenden Verwandschaft. Das Orchester dagegen steht bei dieser durchkomponierten Oper unter Dauer-Anspannung, da es die permanente psychische Grenzsituation der handelnden Personen in entsprechende Klänge umsetzen muss. Martin Lukas Meister leitet das Orchester mit viel Umsicht und Sinn für die zentralen Momente dieser Oper und setzt die richtigen Akzente, ohne die Sänger auf der Bühne in akustische Probleme zu bringen. Orchester und Bühne bilden wieder einmal ein klanglich überzeugendes Ensemble, das die musikalische Aussage der Oper überzeugend zum Ausdruck bringt.

Das Premierenpublikum war begeistert und spendete dem gesamten Ensemble einschlließlich Regie begeisterten Beifall. Der stärkste Applaus galt jedoch zu recht Susanne Serfling für ihre Interpretatiion der Hauptrolle.

Frank Raudszus

Alle Fotos © Barbara Aumüller

 

No comments yet.

Schreibe einen Kommentar