Das St. Petersburger Mariinsky-Ballett präsentiert im Staatstheater Darmstadt Tschaikowskys „Schwanensee“.
Im Rhein-Main-Dreieck erhält man nicht oft die Gelegenheit, klassisches Ballett in „Reinkultur“ zu erleben. Nach der Neuorientierung des Wiesbadener Balletts sind alle bedeutenden Häuser auf das moderne Tanztheater umgeschwenkt, und das aus nachvollziehbaren Gründen. Dass es dennoch ein großes Bedürfnis nach dem traditionellen Ballett gibt, sieht man an der Tatsache, dass die drei Auftritte des Mariinsky-Ballets aus St. Petersbug schon seit Monaten so gut wie ausverkauft sind. Dabei mag sicherlich der Name dieser Truppe eine wichtige Rolle gespielt haben, aber es zeigt auch die Sehnsucht vor allem des älteren Publikums nach den gewohnten Anblicken von „Tü-Tü“, Spitzentanz und „schönen“ Bewegungen.
Die Mariinsky-Führung hatte noch ein Übriges getan, um Nachfrage und Begeisterung des Publikums zu wecken: man setzte konsequent auf die großen „Renner“ des klassischen Balletts, und in dieser ewigen Rangliste dürfte Peter Tschaikowskys „Schwanensee“ ganz vorne stehen. Verbindet es doch alles, was das klassische Ballett zum Erfolg geführt und es geradezu zu einem Topos sui generis hat werden lassen: eine ergreifende Geschichte um Liebe, Gut und Böse, in der das Gute am Ende gewinnt, und eingängige Musik, die sich der tänzerischen Interpretation geradezu anbietet.
Die Inszenierung dieses Klassikers ist denn auch konsequent im traditionellen Stil gehalten. Das beginnt schon beim Bühnenbild. Hinter einigen Reihen von Tiefe verleihenden Baumattrappen erhebt sich eine Burg auf einem hohen, markanten Felsen, im Hintergrund sieht man in der Ferne das Meer mit bergigen Inseln darauf. Die Kopie eines klassischen Naturmotivs zwischen Renaissance und Romantik, deren Nähe zum „K“-Wort man dem Zweck einer reinen Bebilderung der Handlung jedoch durchgehen lassen kann. Hier wohnt die Königin mit ihrem Sohn, dem Prinzen, und so stellt sich das Märchen halt einen königlichen Wohnsitz vor. Später wechselt dieser Hintergrund zu einer kargen Seenlandschaft mit spitzen, nackten Felsen. Hier regiert der böse Zauberer Rotbart, der schöne junge Frauen in Schwäne verzaubert hat, die nur durch reine Liebe erlöst werden können. Rotbart achtet jedoch darauf, dass sich niemand den Schwänen in liebevoller Absicht nähert.
Vor dem Hintergrundbild beherrscht ein aufwändiges Interieur die Bühne, vor allem im dritten Akt, bei dem großen Ball. Reichhaltig geschmückte Wände, Säulen und Friese verleihen der Bühne das Aussehen eines königlichen Palastes. Nicht die Andeutung wie im modernen westlichen Bühnenbild sondern der Reichtum an realistischen Details prägt den Charakter dieses Bühnenbildes. Man fühlt sich buchstäblich zurückversetzt in die „gute alte“ Zeit mit Königen, Prinzen und Prinzessinnen.
Der erste Akt beschreibt ein Fest am Hofe. Einziger chorographischer Zweck dieses Aktes ist es, eine Reihe von Tanznummern vorzuführen. Ähnlich geht es im dritten Akt zu, wenn der Prinz eine Braut auswählen soll. Dabei ist der Hofnarr sozusagen der „rote Faden“. Schon von der ersten Szene an beherrscht er mit seinem farbenfrohen Kostüm und seinen temperamentvollen Figuren die Bühne und stiehlt dem Prinzen, der im ersten Akt kaum tänzerische Auftritte hat, buchstäblich die Show. Ansonsten folgen die Auftritte einzelner Gruppen wie in einer Nummernrevue aufeinander, und die Regie legt es auch darauf an, nach jedem Auftritt den Beifall des Publikums einzusammeln. In dieser Inszenierung geht es offensichtlich nicht darum, der Geschichte von der verzauberten (Schwanen-)Prinzessin und dem treulosen Prinzen eine neue Deutung zu verleihen, wie es etwa das Wiesbadener Tanztheater im Jahr 2010 erforlgreich vorgemacht hat. Das Mariinsky-Ballett erzählt das ursprüngliche Märchen ganz naiv und unreflektiert, ohne jeglichen Anspruch auf gesellschaftliche Deutung. Das ist durchaus legitim, wenn man sich auf den Standpunkt stellt, eine historische Aufführungspraxis unverfälscht wiederzugeben. In diesem Fall konzentriert sich die Choreographie ganz auf die Ästhetik des Tanzes und die Bilder, die man daraus entwickeln kann.
Das klassische Ballett des 19. Jahrhunderts erfüllte in einer vor-medialen Epoche den Bedarf nach Unterhaltung und reicherte diese mit lehrreichen Informationen über fremde Länder und ihre Sitten an. Nur so ist etwa der spanische Tanz im dritten Akt zu verstehen, der musikalisch wie ein Fremdkörper wirkt. Hier ging es dem Komponisten offensichtlich darum, die Musik anderer Länder vorzustellen. Ballett, Oper und Konzert waren damals die einzigen Möglichkeiten, einen lebendigen Eindruck von der Musik anderer Völker zu vermitteln. Im Zeitalter des Internet ist diese Funktion natürlich hinfällig, und so wirken diese folkloristischen Einlagen ein wenig anachronistisch. Doch auch hier soll die Ästhetik kompensieren: mit aufwändigen Kostümen verschiedener Völker belebt die Regie die Bühne und verleiht den Tanzeinlagen der verschiedenen Gruppen damit eine Bedeutung eigener Art, die nicht nach dem „warum“ fragt.
Die unbestrittene Stärke dieser Truppe und damit der Inszenierung liegt in den tänzerischen Leistungen. Das gilt nicht nur für die Solo-Einlagen vor allem der Primaballerina Viktoria Tereshkina und von Yevgeny Ivanchenko (Prinz), sondern auch für die feine Abstimmung der großen Schwanenszenen. Hier tanzen mehrere Dutzend Tänzerinnen Figuren, deren Herausforderung nicht nur in der körperlichen Balance und dem musikalischen Gefühl der einzelnen Tänzerin besteht, sondern mindestens im gleichen Maße für die Synchronität der Bewegungen. Wenn sich eine ganze Ballett-Truppe exakt im Takt und Duktus der Musik bewegt und diese auch noch mit emotionalem Inhalt füllt, dann kann man diese getrost die „Hohe Schule“ des Tanzes nennen. In diesen Disziplinen ist das Mariinsky-Ballett offensichtlich unschlagbar, und so gibt es zu Recht nach solchen gelungenen Passagen spontanen Szenenbeifall. Hübsch sind auch die separaten Gruppen von je vier Schwänen – vier „kleine“ und vier „große“ Schwäne. Bei den kleinen Schwänen tanzen vier Tänzerinnen mit eng verschränkten Armen und ineinander greifenden Beinen einen Tanz, der entfernt an die Tanzspiele kleiner Mädchen auf dem Schulhof erinnern, nur natürlich auf einem anderen Niveau. Doch die Wirkung ist ähnlich, da es den Tänzerinnen gelingt, eine kindliche Atmosphäre zu schaffen. Dagegen sind die Bewegungen der „großen“ Schwäne elegant und weit ausholend. Der landläufige Eindruck des einsamen, majestätisch seine Bahnen auf dem Wasser ziehenden Schwans, hier gewinnt er auf der Bühne Leben.
Daneben sind natürlich die großen Auftritte der Schwanenprinzessin und des Prinzen die Höhepunkte des Abends. Zu den Klängen der wohl jedem Ballett-Liebhaber bestens bekannten Musik liefert vor allem Viktoria Tereshkina eine perfekte Vorstellung ab. Yevgeny Ivanchenko hat dagegen wesentlich weniger Gelegenheiten, seine tänzerischen Qualitäten zu beweisen, da er über lange Strecken eine tänzerisch eher zweitklassige Rolle einnimmt. Wo er jedoch zum Solo-Auftritt kommt, absolviert er diesen mit professioneller Souveränität. Weiterhin fallen tänzerisch der Hofnarr und der Zauberer Rotbart auf, die beide markante tänzerische Auftritte zu bewältigen haben. Dabei gefällt der Hofnarr wegen seiner darstellerischen Vielseitigkeit besonders.
Das Orchester unter der Leitung von Alexei Repnikov klingt zeitweise etwas spröde, läuft aber in den bekannten Walzern zu einer besonders eingängigen Geschmeidigkeit auf. Auffallend ist die transparente Spielweise, die Wert auf die Modellierung einzelner Instrumentenstimmen legt.
Am Ende fragt man sich, ob das die Wiedergeburt des klassischen Balletts oder nur eine nostalgische Erinnerung an das traditionelle Ballett ist. Dahinter steht natürlich die grundsätzlichere Frage, ob das naive, rein auf ästhetische Wirkung abzielende Ballett der alten Schule noch eine Daseinsberechtigung hat. Nach dieser Vorstellung muss man diese Frage bejahen: der perfekte Tanz und eine stimmige Choreographie der Bewegungen haben auch ohne eine relevante gesellschaftliche Interpretation oder Aktualisierung des Stoffes eine Wirkung, die für sich selbst spricht.
Das Publikum war begeistert und spendete nicht nur reichlich Szenenapplaus sondern auch einen begeisterten Schlussbeifall.
Frank Raudszus
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