Das Staatstheater Darmstadt beginnt die Opernsaison mit Donizettis „Der Liebestrank“
Eine alte Theaterregel fordert angeblich, die Saison nie mit einem schweren Stück zu beginnen. Erstens müsse man noch Raum für Steigerungen lassen, und zweitens müsse sich das Publikum nach der Sommerpause wieder langsam an Schauspiel und Oper gewöhnen. Daher hatte die Intendanz des Staatstheaters an den Beginn der Opernsaison folgerichtig Gaetano Dionizettis komische Oper „Der Liebestrank“ in der Inszenierung der Dresdner Semperoper gesetzt. Außer den üblichen Liebeshändeln hat diese Oper nichts an gesellschaftlichem Konfliktstoff zu bieten, und dazu schlägt die Logik einige Kapriolen.
Der einfache Bauern Nemorino liebt die schöne Adina, die ihn jedoch aus nachvollziehbaren Gründen verschmäht. Der forsche Sergeant Belcore hat da schon größere Chancen, so dass Nemorino von dem durchreisenden Scharlatan Dulcamara einen angeblichen Liebestrank kauft, der Adina gefügig machen soll. Als Adina Belcores Heiratsantrag annimmt, fordert Nemorino eine zweite Flasche, um endlich die erwünschte Wirkung zu erzielen. Um den Trank bezahlen zu können, verdingt er sich ausgerechnet bei Belcore als Soldat. Als Adina von diesem Opfer erfährt, entdeckt sie plötzlich ihre Liebe zu dem armen Tropf, kauft ihn aus dem Soldatenstand frei und reicht ihm die Hand fürs Leben.
Man kann diese Handlung schlicht oder einfach nur banal nennen. Verwunderlich ist nur, dass die anspruchsvolle Adina sich plötzlich in Nemorino verliebt, nachdem er ihr bis dahin nur auf die Nerven gegangen ist. Der naive Glaube an die Wirkung des Liebestranks – in Wirklichkeit ein einfacher Rotwein – sagt alles über Nemorinos Einfalt aus. Auch das plötzlich auftauchende Gerücht, Nemorino habe reich geerbt, was ihn auf einen Schlag zum Liebling der Dorfmädchen macht, ist nur ein „deus ex machina“, um Adinas Interesse an ihm zu wecken. Das ergibt zwar einige recht hübsche Szenen, hat aber keine dramaturgische Bedeutung, weil sich Adina eben gerade nicht in Nemorinos angeblichen Reichtum verliebt.
Wie viele komische Opern des frühen 19. Jahrhunderts geht es im „Liebestrank“ ausschließlich um Unterhaltung, das heißt Musik und lustige Szenen – eben „opera buffa“. Da nimmt es denn Wunder, wie Michael Schulz das Stück inszeniert hat. Zwar legt er von von vornherein Wert auf unmittelbare Nähe zum Publikum, etwa wie bei einem Dorffest – der Orchestergraben ist angehoben, so dass das Orchester quasi auf der Bühne spielt und der Klang unmittelbarer wirkt -, aber das Bühnenbild von Dirk Becker und die Kostüme von Renée Listerdal verwirren anfangs und erweisen sich mit zunehmender Spieldauer als peinliche Fehlgriffe. Die Räumlichkeiten, in denen das Stück spielt, sind als halb zerstörte (Bürger-)Kriegsruine hergerichtet. In der Decke klaffen große Löcher, von deren Rändern Fetzen in den Bühnenraum hängen. Die hohen Fenster an der Bühnenrückwand sind mit groben Brettern vernagelt, und Adina lümmelt sich mit ihrer Lektüre – ausgerechnet „Tristan und Isolde“ – auf einigen übereinander gestapelten Matratzen. So stellt man sich die Notunterkunft in einem Bürgerkriegsland vor, und jeder, der darüber nachdachte, wird Syrien vor sich gesehen haben. Natürlich kann – und soll – man aktuelle Probleme in einer Inszenierung verarbeiten, aber nur, wenn die Handlung sich ebenfalls mit ähnlichen Problemen beschäftigt. Hier geht es jedoch nur um dörfliche Liebeshändel, und die Soldaten sind eher fesch kostümierte Komiker als eine um Leib und Leben kämpfende Bürgerkriegstruppe. Um die Sache noch schlimmer zu machen, lässt Renée Listerdal die Soldaten in weißen Overalls aus dem Boden steigen, die deutlich an die Anzüge der Säuberungstruppe nach Chemieunfällen erinnern. Syrien hat auch hier ganz offensichtlich Pate gestanden, aber der Ernst der Anspielung kontrastiert auf unangenehme Art mit der Banalität der Opernhandlung. Dieser Kontrast lässt sich auch schwer oder gar nicht als satirische Provokation interpretieren, weil die gesamte Handlung komisch angelegt ist. Mit diesen Anspielungen bagatellisiert die Inszenierung Bürgerkriege wie in Syrien.
Wem es gelingt, die peinlichen Assoziationen zu verdrängen, findet dann jedoch tatsächlich eine Reihe von witzigen Einfällen und guten schauspielerischen Leistungen, wie sie zu dem eigentlichen Libretto passen. So lässt Michael Schulz die Soldaten als eitle Selbstdarsteller auftreten, denen es hauptsächlich um die schönen Uniformen, den roten Federbusch am Hut und die militärischen Rituale geht. Eine eventuelle Lust am Kampf und Töten wird hier auf jeden Fall nicht thematisiert, ganz einfach, da eine solche Sicht nicht aus dem Libretto herauszulesen ist. Mit solchen Militärritualen lässt sich natürlich so mancher Lacher ernten.
Ein weitere hübsche Idee war, die Rezitative nicht vom Orchester sondern von einem Klavierspieler auf der Bühne begleiten zu lassen, die Musik sozusagen auf die Bühne zu holen. Der Pianist hat daneben die Aufgabe, nach jeder missglückten Liebeserklärung Nemorinos auf verträumt-verklemmte Weise einen Luftballon durch die zerstörte Decke steigen zu lassen, dessen leere Hülle jedes Mal – außer beim letzten Auftritt – schlaff herunterfällt. Auch beim Einzug des Scharlatans Dulcamara kann man Assoziationen an die Weltpolitik nicht übersehen. Er entsteigt einem riesigen Schiff, das an alte Vorstellungen der Arche Noah erinnert und durch rot-grüne Lichter als nautisches Fahrzeug gekennzeichnet ist, und betrügt die Welt mit tönendem und tönernem Charme nach allen Regeln der Kunst. Wem diese Anspielung gilt, dürfte jedem Zuschauer schnell klar geworden sein. Doch so gut die Idee an sich ist, hier ist sie am falschen Platz, weil die Handlung dieses banalen Liebesschwanks solche Anspielungen nicht trägt. Hier werden sozusagen politische Perlen vor die Säue eines Trivial-Librettos geworfen.
Die Darsteller versuchten jedoch, dem Stück durch persönliches Engagement Schwung und Würze zu geben. Marie Rose Koenn konnte als Adina in einigen Szenen ihre stimmlichen Fähigkeiten beweisen und tat es auch souverän mit ihrer stets präsenten und in allen Lagen sicheren Stimme. Auch darstellerisch überzeugte sie, soweit es das nicht gerade von psychologischer Logik durchdrungene Libretto zuließ. Arturo Martin dagegen fand in der Rolle des Nemorino erst spät zu einer tragenden Form. Anfängliche Anstrengungen bei hohen Tönen und mangelnde Durchsetzung gegen das Orchester fielen vor allem im ersten Akt auf. Im zweiten Akt steigerte er sich jedoch merklich, sowohl stimmlich als auch darstellerisch. Allerdings ist ihm zugute zu halten, dass seine Rolle als „tumber Tor“ anfangs nicht gerade sehr dankbar ist. In der berühmten Arie „Una furtiva lagrima“ konnte er dann überzeugen.
David Pichlmaier füllte die Rolle des eitlen Sergeanten Belcore mit viel Gespür für die komische Seite dieser Figur aus. Überheblichkeit, Selbstbewusstsein „bis zum Abwinken“ und Eitelkeit bieten jedem Darsteller ein weites Betätigungsfeld, und Pichlmaier bestellte dieses Feld recht gründlich.
Die größte Wirkung an diesem Abend erzielte jedoch Kyung-il Ko als Dulcamara. Mit Selbstbewusstsein und Verkaufstalent vollgedröhnt bis zur Halskrause betrat sein Dulcamara die Bühne und wickelte sofort seine Kundschaft ein. Schlitzohrig und charmant zugleich vervollständigte er das ambivalente Bild eines „Wohltäters“, der von außen in eine gewachsene Gemeinschaft eindringt und ihr ein fragwürdiges Glück bringen will. Drei Mal darf man raten, wen diese Inszenierung mit dem schillernden Dulcamara meint. Kyoung-il Ko jedenfalls ging in dieser Rolle förmlich auf und beherrschte streckenweise die ganze Bühne.
Der Chor war sowohl sängerisch als auch darstellerisch gefordert. Renée Listerdal hatte die Mitglieder dazu mit einem Potpourri an Kostümen ausgestattet, der mindestens ein Jahrhundert abdeckte. Der Grund für diese Mischung der Kleidungsstile lässt sich nur als Hinweis auf Zeitlosigkeit verstehen. Das stimmt für die schlichte Handlung sicherlich, für die erweiterten Anspielungen mit Abstrichen.
Das Orchester spielte unter der Leitung des jungen Elias Grandy. Auffallend war die rustikale Klangbildung, die Grandy konsequent bis zum Schluss durchhielt. Das passte durchaus zu einer „opera buffa“, bei der sowohl die Handlung als auch die Musik handfeste Züge zeigen sollte. Schließlich muss man sich so eine Oper stets als Dorffest vorstellen, bei der auch die Musik von den Dorfbewohnern beigesteuert wird.
Der Premierenapplaus galt vornehmlich den Darstellern, allen voran Kyong-il Ko, und auch der Musik. Das Regieteam trat dagegen beim Schlussapplaus nicht in den Vordergrund.
Frank Raudszus
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