Die ästhetische Überhöhung des Trivialen    

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Das Staatstheater Darmstadt zeigt zum Saisonschluss Bellinis Oper „La Somnambula“.

Bei der Betrachtung des Librettos dieser Oper aus dem Jahr 1831 wollen wir das böse „K-Wort“ einmal vergessen, obwohl die Handlung mehr oder minder eine dramatische Leerstelle darstellt und sich lediglich auf elementare Gefühle bezieht. Psychologische, gesellschaftliche oder gar politische Konflikte wird man hier vergeblich suchen; wie in einer Boulevard-Komödie wird die Liebe nur durch ein Missverständnis bedroht.

Elisabeth Hornung (Teresa), Julie Davies (Amina)

Elisabeth Hornung (Teresa), Julie Davies (Amina)

Der Gutsbesitzer Elvino will die schöne Amina heiraten, und das gesamte Dorf in den Schweizer bereitet sich aufgeregt auf das Fest vor. Doch da wird Amina am Morgen des Hochzeitstages im Bett eines gerade angekommenen Fremden namens Rodolfo gefunden. Der Zuschauer weiß natürlich, dass sie durch Schlafwandelei dorthin gekommen ist, und dass der scheinbare Verführer sich korrekt benommen und sich aus unbekannten Gründen entfernt hat. Elvino verstößt Amina und wendet sich seiner ehemaligen Geliebten Lisa zu, die das örtliche Gasthaus betreibt und von Alession umgarnt wird, den sie aber brüsk abweist. Die todunglückliche Amina beteuert vergeblich ihre Unschuld. Kurz vor der Hochzeit bringt Aminas Mutter ein Wäschestück Lisas zum Vorschein, das sie in Rodolfos Zimmer gefunden hat. Der Zuschauer weiß ebenfalls, dass Lisa den attraktiven Gast umgarnt hat und sich schnell ihrer Wäsche entledigt hat. Rodolfo möchte an Aminas Unglück nicht schuld sein und erklärt Elvino und der Dorfbevölkerung den Sachverhalt mit der Schlafwandelei. Doch niemand glaubt ihm, bis Amina selbst schlafwandelnd auftritt und im Schlaf ihre große Trauerarie singt. Elvino sieht alles ein und vereint sich mit Amina, Lisa nimmt schulterzuckend mit Alessio vorlieb.

Die Handlung ist aus den einfachsten Versatzstücken förmlich zusammengebastelt. Die anfangs geheimnisvolle Figur des Grafen Rodolfo weckt zwar die Phantasie der Zuschauer, dient jedoch lediglich der Aufklärung der Dorfbevölkerung über das Phänomen der Schlafwandelei. Ein Dorfbewohner hätte das nicht gekonnt, weil man dann gleich eben dies vermutet hätte. Amina hätte genauso gut in einem anderen Bett aufwachen und Lisa ihre erotischen Avancen einem anderen Mann machen können. So eskaliert die Geschichte ausschließlich aufgrund der Unkenntnis eines biologisch-medizinischen Problems. Von Konfliktverarbeitung kann also in dieser Oper keine Rede sein.
Aber – und dieses Aber ist wichtig: die Qualität der Oper liegt ganz woanders; nicht im dramatischen Konflikt sondern in der musikalischen, vor allem der gesanglichen Darstellung. Bellini gehört zur Epoche der romantischen Opernkomponisten, denen es ausschließlich um die möglichst authentische und tiefe Darstellung menschlicher Gefühle ging. Da die menschliche Stimme nach einstimmiger Meinung das perfekteste Musikinstrument darstellt, drückt Bellini die Gefühle durch den Gesang aus. Dabei setzt er alles ein, was die menschliche Stimme zu leisten imstande ist: extreme, möglichst „leuchtende“ Höhen, halsbrecherische Koloraturen, schnelle Wechsel des Timbres und der Intensität.

Folgerichtig besteht die Oper im Wesentlichen aus großen Arien und Duetten. Die zwischengeschalteten Chorszenen dienten mehr oder minder dem Zeitgeschmack, der Chöre als obligatorisch betrachtete. Die Dorfgemeinschaft bietet da viele Möglichkeiten, kann doch die Bevölkerung die erotischen Verwicklungen auf vielfältige Weise kommentieren: freudige oder schadenfrohe Teilnahme, Mitleid, Abscheu und Beschwörungen. Bellini nutzt diese Möglichkeiten und lockert die Folge weit ausholender Arien immer wieder durch solche Chorszenen auf.

Julie Davies (Amina), Opernchor

Julie Davies (Amina), Opernchor

Ansonsten steht im ersten Akt im Wesentlichen die Liebe zwischen Amina und Elvino im Vordergrund. In langen Arien und Duetten besingen die beiden ihre unverbrüchliche Liebe und ihr unglaubliches Glück, wobei die jeweiligen Ensemblemitglieder die Gelegenheit erhalten, alle gesanglichen Register zu ziehen und ihr gesamtes sängerisches Repertoire auszubreiten. Das führt im ersten Teil zwangsläufig zu Längen, die sich jedoch bei Bellinis „Belcanto“-Kunst und den Stimmen der Sänger und Sängerinnen dieser Inszenierung durchaus angenehm überstehen lassen. In einer Opernumwelt, die den psychologischen oder gesellschaftlichen Konflikt schon fast als ein undiskutables Muss betrachtet und die Oper nicht genug mit Leid, Ungerechtigkeit und Unterdrückung beladen kann, ist es nicht nur angenehm sondern auch legitim, einmal nur „schöne“ Stimmen zu hören. Nun ist die Definition des Schönen durchaus subjektiv und stets ein Gegenstand heftiger Diskussionen – frei nach dem Motto „Alles Private ist politisch“ ließe sich sagen „alles Schöne ist verdächtig“ -, doch bekanntlich ähnelt sich das Schönheitsempfinden der meisten Menschen in überraschendem Maße; anders könnten die allgemein üblichen Zuordnungen von Schönheit gar nicht erfolgen.

Sicher ist es zu einfach zu sagen, Bellini habe „wunderschöne“ Melodien komponiert, und daher haben Musikexperten das Geheimnis hinter dieser „universellen“ Schönheit gesucht. Dabei haben sie Gesetzmäßigkeiten der Harmonik und des Satzaufbaus gefunden, die menschliche Emotionen wie Ekstatse, Trauer, Leid, Resignation oder Verzweiflung, aber auch überschäumendes Glück und Dankbarkeit ausdrücken, das heißt, mit klanglichen Mitteln entsprechende Assoziationen beim Hörer wecken. Von daher entspringt die Schönheit Bellinischer Musik nicht nur dem emotionalen Wohlbefinden musikalisch einfältiger und intellektuell bequemer Zuhörer, sondern resultiert gewissermaßen aus harmonischen Beziehungen in der Physik, das heißt der Natur. Man darf sich also durchaus an der Schönheit dieser Arien erfreuen oder sich von ihnen ergreifen lassen. Die heimlichen Tränen, so sie denn fließen, kann man sich noch im Dunkeln aus den Augenwinkeln wischen.
Auch John Dew, der die Oper inszeniert hat, ist die Fragwürdigkeit der schlichten Handlung nicht entgangen. Daher hat er konsequent auf eine gewisse Ironisierung gesetzt. Sein Bühnenbildner Dirk Hofacker hat das Schweizer Bergdorf mit Zermatt gleichgesetzt und das wohl bekannteste „Kitsch-Symbol“ der Schweiz, das Matterhorn, zentral und majestätisch vor einen  blauen Himmel an die Bühnenrückwand genagelt. Hartnäckig bleibt es in allen Szenenbildern dort stehen und wird je nach Tageszeit weiß, gelb, rot oder fahlblau angeleuchtet. Vor dieser Postkarten-Ikone hat Hofacker einen Gebirgsquerschneitt aus Pappmaché platziert, wie er in Erdkundebüchern über die Gesteinsschichtungen stehen könnte. Die grobe, fast kindliche Darstellung kontrastiert dabei mit der Pseudo-Majestät des Matterhorns und spitzt die Ironisierung noch zu.

Julie Davies (Amina), Margaret Rose Koenn (Lisa), Wilfried Zelinka (Graf Rodolfo)

Julie Davies (Amina), Margaret Rose Koenn (Lisa), Wilfried Zelinka (Graf Rodolfo)

José Manuel Vasquez hat die Darsteller dazu in Kostüme aus dem 19. jahrhudnert gesteckt, jedoch nicht realistisch in die derbe Kluft armer Schweizer Bergbauern aus dem vorletzten Jahrhundert, sondern in schöne Folklorekleider und -anzüge, adrett und sauber wie für die nächste Touristenveranstaltung. Auf subversive Weise unterläuft Dew damit die große emotionale Geste dieser Oper, ohne sie bloßzustellen. Fast möchte man meinen, er wolle sagen: „Seht, die Musik ist zwar wunderschön, hat jedoch nichts mit der Realität sondern mehr mit Sehsüchten und naiven Träumen zu tun“. Doch nie geht er so weit, dass er die Protagonisten auf der Bühne verspottet. Menschliches Leid bleibt Leid, auch in einem schlichten, naiven Handlungsrahmen. Denn Amina dürfte es gleichgültig sein, ob Elvino sie aus lächerlichen Gründen verlassen hat: er hat sie verlassen. Und Elvino kann auch aus seiner Haut nicht heraus, wenn er seine Braut im Bett eines fremden Mannes findet; also muss man auch diese Figur und ihr Leiden ernst nehmen. Und das Tut John Dew, indem er seine Darsteller die Arien mit höchstem Ernst und menschlicher Anteilnahme vortragen lässt. Zusammen mit Bellinis „Belcanto“ ergibt sich damit eine einzigartige Intensität der musikalischen Darstellung.
Aki Hashimoto singt in dieser Aufführung den Part der Amina mit tiefer Inbrunst und einer fast unglaublichen Variabilität der Stimme. Die schwierigen Koloraturen gehen ihr leicht von der Kehle, und vor allem bei der großen Schlafwandelszene überzeugt sie nicht nur mit einem nachtdunklen Timbre, sondern auch mit einer darstellerischen Leistung, wenn sie das schmale Band zwischen Orchestergraben und Parkett im Zeitlupentempo durchmisst und dabei über Minuten das Publikum bannt. Minseok Kim gibt einen strahlenden, präsenten Elvino, der auch in hohen Lagen keine Anstrengung erkennen lässt und die Bühne mit Stimme und Körper füllt. Wilfried Zelinka spielt die ambivalente Figur des Grafen Rodolfon mit aristokratischer Grandezza. Nur die ihm vom Libretto vorgeschriebene Bettszene mit Lisa passt nicht ganz in das Bild des ehrenhaften, integren Adligen. Aber das ist wohl eher Bellinis Librettisten als dem Sänger oder der Regie anzulasten. Auch die Figur der Lisa ist bei Bellini mal eine unglückliche weil verlassene Geiebte, dann wieder ein kleines Luder, das kompromisslos den eigenen Vorteil sucht, und muss sich den seltsamen Windungen des Librettos beugen. Doch Margaret Rose Koenn meistert die Rolle mit viel Temperament und Gespür für die Situation. Elisabeth Hornung singt mit gewohnter Souveränität die Teresa und Stephan Bootz Lisas Verehrer Alessio.
Das Orchester hat nur wenige Möglichkeiten, seine gesamten Fähigkeiten zu entfalten. Über lange Strecken begeleitet es vor allem die Arien der Protagonisten mit mehr oder minder markanten harmonischen oder motivischen Haltepunkten. Oft sind es nur kurze Tupfer, die den Sängern Halt für die nächsten Takte geben, dann wieder eine kurze Einleitung oder Hinführung, dann ein Zwischenspiel. Elisas Grandy beweist bei diesen Einsätzen viel Gespür für die jeweilige Bühnensituation und vor allem für die Sänger mit ihren anspruchsvollen Arien.
Der Chor unter der Leitung von Markus Baisch zeigt sich agil und spielfreudig, lockert das Geschehen immer wieder durch originelle Einfälle auf und ist stimmlich nicht nur ausgeprochen präsent sondern passt sich auch sehr geschmeidig der rhythmischen und thematischen Struktur der Musik an.
Das Publikum hatte die Musik offensichtlich genossen und tat dies mit kräftigem Beifall kund.

Frank Raudszus

Alle Fotos © Barbara Aumüller

 

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