Hector Berlioz´ Oper „Les Troyens“ verwöhnt das Darmstädter Publikum mit Ausstattung und praller Musik.
Griechenland ist im Darmstädter Staatstheater derzeit in Mode. Ob das an der Finanzkrise liegt, darf bezweifelt werden, aber es sieht fast so aus, als wolle die Theaterleitung trotzig darauf verweisen, dass aus diesem Lande doch die großen Mythen der Menschheit stammen. So hat man nun fast gleichzeitig mit einer Neuinterpretation der „Phädra“ des Euripides eine musiktheatralische Version von Homers „Ilias“ und Vergils „Dido und Äneas“ auf die Bühne gebracht. Diese stammt von Hector Berlioz, den dieser Stoff bereits in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts fasziniert hat und der den Stoff dann als epische Oper zwanzig Jahre später unter dem Namen „Les Troyens“ („Die Trojaner“) veröffentlichte. Er verbindet dabei im Grunde genommen drei Mythen: den des Endes von Troja, die Rettung der überlebenden Trojaner durch Äneas und dessen tragische Liebesgeschichte mit der kathagischen Königin Dido. Das ist angesichts der Fülle der jeweiligen Stoffe ein anspruchsvolles Unterfangen, und so wundert es nicht, dass die Oper wagnerianische Ausmaße von fünf Stunden Aufführungsdauer annimmt.
Berlioz beschränkt sich in dieser Oper konsequent auf den mythischen Stoff. Gesellschaftskritische Elemente – sei es hinsichtlich der Menschheitsgeschichte oder aktueller Zustände – spielen dabei offensichtlich keine Rolle. Der Mythos selbst mit seinen elementaren Gefühlen und Katastrophen reichte ihm als Motivation für ein umfassendes Klanggemälde, das so recht in das historienfreudige 19. Jahrhundert passt. Im Grunde genommen zerfällt die Oper in zwei dramaturgisch weitgehend eigenständige und in sich geschlossene Teile, die jeweils als eigene Opern inszeniert werden könnten. Die ersten beiden Akte schildern den Untergang Trojas und die knappe Rettung eines Teils der Einwohner unter Äneas. Im dritten bis fünften Akt stehen dann Äneas´ Ankunft in Kathargo, der Kampf gegen die Numider, die Liebe zu Dido und Äneas´ von den Göttern aufgetragene Überfahrt nach Italien im Mittelpunkt. Der Mythos besagt hier, dass das Schicksal – sprich: die Götter – die Gründung eines Reiches auf der italienischen Halbinsel und den Heldentod auf dem Schlachtfeld für ihn vorgesehen hat. Diesen Auftrag darf ein mythischer Held nicht wegen der Liebe zu einer Frau vergessen, diese jedoch wird sich – das wissen auch alle Mythen – bitter für das Verlassenwerden rächen.
Man darf Berlioz gewisse Anachronismen nicht übelnehmen sondern kann sich eher darüber amüsieren. So rufen die Helden unn der Chor stets „auf nach Italien“, was natürlich im 13. Jahrhundert v. Chr. angesichts der – ebenfalls mythischen – Gründung von Rom im Jahr 753 v. Chr. und der viel späteren Enstehung des Begriffs „Italien“ etwas komisch anmutet. In ähnlicher Weise beschwört Äneas gerne Jupiter, den obersten Gott der viel später enstehenden römischen Religion. Das aber sah man im 19. Jahrhundert nicht so eng, da der Mythos einerseits alles erlaubte und andererseits der Spaß an der Musik im Vordergrund stand.
Die Unterhaltung steht auch bei dieser Inszenierung an vorderster Stelle. Was könnte man aus diesem Stoff auch an gesellschaftskritischem Potential extrahieren, ohne den Mythos zu zerstören? Doch John Dew gelingen in seiner Inszenierung dieses Spektakels große Bilder, sowohl im wahrsten Sinne des Wortes bei der Gestaltung der Bühne als auch im musikalischen Ausdruck.
Für den ersten Teil hat Heinz Balthes eine düstere Steinlandschaft geschaffen, die wie ein überdimensioniertes Stonehenge aussieht und das Leiden der Stadt in einem zehnjährigen Krieg veranschaulicht. Keine Mauer steht mehr gerade, und die Zeichen der Zerstörung sind in den unregelmäßigen Formationen deutlich zu erkennen. Die fahl angeleuchtete Steinlandschaft ist von einem Dunkel umgeben, das man sowohl als Ausdruck des jahrelangen Leidens wie auch als Prophezeiung verstehen kann. In diese trostlose Landschaft stolpert Kassandra(Katrin Gerstenberger) mit wehenden Haaren und schwarzem Gewand, das Gesicht ausgezehrt und in hellsichtigem Wahnsinn verzerrt. Sie ahnt die List, die hinter dem großen Holzpferd steckt, und warnt das übermütige Volk davor, es im Triumph in die Stadt zu ziehen – wie wir wissen, vergebens. Ihren Verlobten Chorobeus will sie zur Flucht bewegen, da sie für sich den Tod vorgezeichnet sieht, er jedoch neigt eher zur Euphorie der Trojaner, die nach zehn Jahren Krieg endlich den vermeintlichen Sieg feiern wollen. Berlioz reizt diese Szene szenisch und musikalisch bis zum Letzten aus und bringt die düster-hektische Atmosphäre geradezu beklemmend zum Ausdruck. Katrin Gerstenberger und Oleksandr Prytolyuk beherrschen die Bühne während dieses ersten Aktes stimmlich und darstellerisch fast alleine.
Der zweite Akt ist weniger dramatisch, obwohl hier die Katastrophe stattfindet. Doch anfangs wähnen sich die Strategen Trojas in ihrem Palast sicher und reden mehr über die Freuden des Sieges als über Gefahren, und dann geht es plötzlich sehr schnell: die im Pferd versteckten Griechen haben nächtens die Wachen getötet, die Tore geöffnet und das griechische Heer in die Stadt gelassen. Der Rest ist Blut und Schweigen und wird in guter alter Theatertradition nur von entsetzten Boten berichtet. Erst zum Schluss dieses Aktes nimmt die Dramatik wieder zu, wenn Äneas (Hugh Kash Smith) die Überlebenden aus der Stadt führt und Kassandra die Frauen in der Zitadelle zum gemeinsamen Selbstmord überredet, um nicht von den siegreichen Griechen geschändet zu werden. Dutzende von Frauen aus dem Chor erdolchen sich und sinken theatertot zu düsterer Musik auf die Bühnenbretter. Die Griechen schauen machtlos zu – Vorhang.
Im zweiten Teil herrscht von Anfang an eine völlig andere Atmosphäre. Vor einem lieblichen Hintergrund aus Bäumen und Seen ragen sauber gefräste Marmorsäulen auf; davor feiern farbenfroh gekleidete Frauen und Männer das Glück und den Wohlstand Kathargos sowie ihre Königin Dido (Erica Brookhyser). Heiterkeit und Ausgelassenheit prägen die Handlung und die Musik, und die Drohung des numidischen Königs scheint eher zweitrangig. Als die nach langer Irrfahrt um Aufnahme bittenden Trojaner unter Äneas erleichtert einziehen, naht die Kunde vom kriegerischen Einfall der Numider, denen die Karthager nichts entgegensetzen können. Dramaturgisch passend schlagen die (erschöpften??) Trojaner die Numider in die Flucht (man stelle sich das vor: nach dem Untergang von Troja, der Rettung des nackten Lebens und einer langen Irrfahrt über das feindliche Meer!), womit die Dankbarkeit der Katharger und die Liebe Didos zu Äneas ausreichend begründet sind. Weiteres Feiern ist angesagt, und hier kommt das Tanztheater des Staatstheaters publikumswirksam zum Einsatz. In mehreren farbenfrohen und temperamentvollen Mini-Coreographien zeigen sie nicht nur ihr tänzerisches Können sondern auch viel Witz, wie man ihn bei einer Siegesfeier durchaus erwarten kann. Doch endet das Glück immer dann, wenn es am größten ist: nach einem langen Liebesduett zwischen Dido und Äneas auf den Kissen des Palastes packt Äneas das schlechte Gewissen, und er beschließt, endlich seinen göttlichen Auftrag in Italien zu erfüllen und mit seinen Schiffen abzureisen. Während Dido ihre Gefährten noch bittet, ihn aufzuhalten, weil sie es mit allen weiblichen Mitteln nicht schafft, entdeckt man seine Flotte schon draußen auf hoher See. Die enttäuschts Dido verflucht ihn, wünscht ihm den vom Mythos prophezeiten Tod und stirbt selbst an ihrer verlorenen Liebe.
Fast symmetrisch zum ersten Teil endet auch der zweite mit dem Tod einer Protagonistin – Dido, und in jedem Fall ist es Äneas, der sich dem Untergang entzieht, bis ihn im fernen Land, das man zwei Jahrtausende später Italien nennen wird, gemäß der Weisung der Götter und dem Fluch der Dido ein Pfeil durchbohren wird.
Das ist natürlich große Oper, und daraus kann man viel machen. John Dew hat diese Chance genutzt und bei seiner Inszenierung voll auf Opulenz und musikalische Wirkung gesetzt. Er folgt darin ganz Berlioz, der ein großes mythisches Panorama schaffen wollte, und lässt Sänger und Chor nicht nur die ganze Breite und Tiefe der Bühne nutzen sondern stattet diese auch mit den passenden Requisiten aus. Der letzte Akt erinnert dabei in seiner Seefahtsbezogenheit – Poller, Strickleitern sowie Takelage – an den „Fliegenden Holländer“. Passend dazu singt Lasse Penttinen als phrygischer Matrose Hylas sein Abschiedslied hoch in den Wanten eines imaginären Schiffes.
Der Chor zeigt in dieser Oper besondere Präsenz, sowohl stimmlich – auf und hinter der Bühne – als auch darstellerisch: mal als trojanische Soldaten oder Frauen, dann als kathargisches Volk, das den Aufstieg und das Glück der Stadt feiert. Das sorgt für stete Bewegung und dramatische Szenen auf der Bühne, die teilweise sehr realistisch dargestellt sind und die Angst und den Schrecken im Krieg, aber auch die – voreilige – Erleichterung und Euphorie überzeugend vermitteln. Auf der anderen Seite kommt die Leichtigkeit eines arkadisch glücklichen Lebens in den Szenen des zweiten Teils glaubwürdig zum Ausdruck. Kostüme, Gesang und Tanz bilden dabei ein opulentes szenisches Erlebnis, das die pralle und dramatische Musk von Berlioz noch verstärkt.
Angesichts der langen Besetzungsliste – wir zählen allein einundzwanzig Gesangssolisten – würde es den Rahmen dieser Rezension sprengen, jeden Sänger und jede Sängerin einzeln zu begutachten. Wir beschränken uns dabei auf die Protagonisten, die besonders hervorstachen. Dabei ist im ersten Teil vor allem Katrin Gerstenberger zu nennen, die als Kassandra sängerische und darstellerische Schwerstarbeit zu verrichten hat und diese mit der gewohnten und immer wieder bestechenden Klarheit und Präsenz abliefert. Oleksandr Prytolyuk ist ihr dabei ein Partner auf Augenhöhe. Im zweiten Teil dann laufen Hugh Kash Smith und Erica Brookhyser zu Hochform auf, sowohl zusammen in den großen Duetten als auch einzeln in ihren jeweiligen Arien, wobei Erica Brookhyser vor allem in ihrer abschließenden Rachearie beeindruckt. Daneben sind viele gute Sänger und Sängerinnen zu erwähnen – Thomas Mehnert als Pantheus, Ninon Dann als Didos Schwester Anna oder Aki Hashimoto als Äneas´ Sohn Ascanius, um nur einige zu nennen. Vor allem aber ist das ganze hervorzuheben, das wie aus einem Guss spielt und auch ohne kritische Aussage für einen gelungenen und denkwürdigen, weil opulenten Opernabend sorgt.
Das Orchester unter der Leitung von Martin Lukas Meister bewältigt die an Klangfarben und thematischen Überraschungen reiche Partitur souverän und setzt an den richtigen Punkten die Akzente, ohne jemals die Stimmen auf der Bühne zu überlagern. Bei aller Vielfalt der Klangfarben bleibt stets die Transparenz gewahrt, so dass man den einzelnen Instrumentenlinien und deren Intonation gut folgen konnte.
Das Publikum zeigte sich auch in der fünften Aufführung noch begeistert, als wäre es die Premiere.
Weitere Aufführungen am 18. Mai sowie am 15. und 23. Juni
Frank Raudszus
Alle Fotos © Barbara Aumüller
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