Biographische Notizen einer erfolgreichen Dramatikerin
Yasmina Reza ist eine der erfolgreichsten Theaterautorinnen (und auch -autoren!) der letzten zwanzig Jahre, und ihr Erfolg überdeckt dabei weitgehend die Tatsache, dass sie ausgebildete Schauspielerin ist und diesen Beruf auch jahrelang ausgeübt hat. Ihre meist auf Kammerspielgröße zugeschnittenen Beziehungsdramen zeigen, wie dünn die Tünche der Konvention und Korrektheit über einem oftmals chaotischen Gefühls- und Beziehungsleben ist. Eher nebenher betätigt sie sich auch als Prosa-Autorin und hat mit dem vorliegenden Band eine Sammlung von Anekdoten aus dem Familien- und Bekanntenkreis vorgelegt, die meist entweder mit grundlegenden Reflexionen verbunden sind oder diese beim Leser auslösen. Dabei schreckt sie auch vor entblößenden Geschichten nicht zurück, die jedoch nie die jeweilige Person entwürdigen.
In einer Geschichte schildert sie eine Episode mit ihrem todkranken Vater, der noch einmal die Hammerklaviersonate von Beethoven vorspielt, aber bei allem Bemühen so schlecht, dass darin all der Jammer des zuende gehenden Lebens zutage tritt. Yasmina Reza erkennt die große Liebe ihres Vaters zur Musik und den so verzweifelten wie vergeblichen Versuch, diese noch einmal auf den Tasten des Flügels aufleben zu lassen. An anderer Stelle schildert sie den körperlichen Verfall des todkranken Vaters, der jedoch verzweifelt an der Illusion einer vorübergehenden Schwäche festhält. Der Tod spielt auch bei der Erinnerung an ihre Freundin und Agentin Marta eine Rolle, der sie während ihrer letzten Lebenstage nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet zu haben glaubt. Das schlechte Gewissen lässt auch gleich eine andere Episode mit der kranken Marta aufleben, bei der diese sich hinter dem dünnen Schleier eines burschikosen Galgenhumors über die Vergänglichkeit beklagt und bei der Autorin Gedanken über das Wesen der Zeit auslöst.
Doch auch der Humor kommt bei diesen Erinnerungen nicht zu kurz. So entdeckt sie bei einem großen Konzert das Aschenputtel aus ihrer Schulklasse im berühmten Chor der Pariser Oper und leistet ihr wegen dieser unerwarteten Entwicklung im Stillen Abbitte, nur um bei der späteren Annäherung festzustellen, dass es gar nicht die Schulfreundin ist. Die Bedeutung ihres „irrtümlichen“ Schuldgefühls bleibt in der Luft hängen, der Witz der Situation ist jedoch auch nicht zu verkennen. Andere Geschichten handeln von ihren Kindern und deren Fragen, Sorgen und Kümmernissen. In einem Fall ist ein von der Tochter gemaltes Bild verschwunden, und die Mutter ist darüber untröstlich. Die Tochter jedoch hat das Bild schon vergessen und denkt an ganz andere Dinge. Der Verlust des Bildes ist für Yasmina gleichbedeutend mit dem endgültigen Yerschwinden von einem Stück Kindheit und damit Leben. Die Vergänglichkeit wird ihr plötzlich schmerzhaft bewusst, während das Kind nur an Gegenwart und Zuklunft denkt.
In einer anderen, geradezu absurden Erinnerung beteuert eine Frau ihre Liebe zu Kriegsbildern im Fernsehen, etwa aus Afghanistan oder dem Irak. Die erstaunte Rückfrage ergibt, dass die Frau von der Landschaft hinter den kriegerischen Ereignissen fasziniert ist. Gestorben wurde vor einer solchen Kulisse schon immer. Die „Existenz der Porte Champerret“ dagegen zeigt schlaglichtartig den Gegensatz zwischen männlicher und weiblicher Psyche, bei der der fahrende Mann im Auto seine Frau sachlich bei einer Aussage korrigiert und sie diese Korrektur als Verstoß gegen das emotionelle Einverständnis wertet. Resultat: kaltes Schweigen.
Als begeisterte Musikliebhaberin und Hobby-Pianistin thematisiert Yasmina Reza immer wieder die Musik, nicht nur in Zusammenhang mit ihrem ebenso musikbegeisterten Vater. Anhand eines Konzertberichts eines Bekannten geißelt sie die Unart des heutigen Publkums, sich möglichst schon beim letzten Ton eines Konzerts durch Klatschen als wichtige Person zu zeigen und das durch das lange Zuhören gedemütigte Ego zu streicheln. Für diese Besucher stehen nicht die Musik und der Interpret, sondern die eigene Teilnahme an diesem Ereignis im Mittelpunkt.
Dann ist da noch der Mann, der nach Jahrzehnten zufällig einen nie abgeschickten Brief einer Frau erhält, die ihn darin auffordert, seine Zurückhaltung aufzugeben. Vertane Chancen. Oder die einsame Witwe, die sich in ihrer Wohnung vergraben hat und eines Tages den Mut aufbringt, den ihrer Meinung nach unverschämten Mann der Concierge zurechtzuweisen. Yasmina Reza sieht viele kleine Tragödien oder auch Komödien um sich herum, in denen Lebens- und Sterbensangst, Unischerheit, Einsamkeit und die (Sehn-)Sucht nach Beachtung eine Rolle spielen, sei es nun bei Kindern oder alten Menschen. Es lohnt sich, in diesem kleinen Band zu blättern und sich ein Stück von der Lebenserfahrung dieser klugen Frau abzuschneiden.
Das Buch „Nirgendwo“ von Yasmina Reza ist im Hanser-Verlag unter der ISBN 978-3-446-23501-4 erschienen, umfasst 150 Seiten und kostet 17,90 €.
Frank Raudszus
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