Für das 7. Sinfoniekonzert im Staatstheater Darmstadt hatte GMD Will Humburg ein Programm zusammengestellt, das aus Musik am Rande weltpolitischer Umbrüche bestand: Rolf Liebermanns „Furioso“ entstand 1947, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, Beethovens 7. Sinfonie wurde 1813 nach der Leipziger Völkerschlacht uraufgeführt, und Schostakowitschs Prolog zu der Oper „Orango“ entstand Anfang der 30er Jahre sozusagen im Spätstadium der bolschewistischen Revolution. Ob Will Humburg die Auswahl mit diesem weltpolitischen Hintergrund geplant hat oder ob sich dieser gemeinsame Hintergrund aus purem Zufall entwickelte, sei dabei dahingestellt.
Rolf Liebermann, verwandt mit dem Maler Max Liebermann und dem Politiker Walter Rathenau, war selbst ein vielseitiger Künstler, vor allem Musiker. Bei den Ferienkursen für neue Musik in Darmstadt 1947 stellte er seine Komposition „Furioso“ vor, die wegen ihrer für die frühe Nachkriegszeit ungewöhnlichen Energie und wegen eines gewissen Optimismus sofort einschlug. Das Stück überrascht gleich zu Beginn durch seine jazz-artigen Rhythmen und erinnert punktuell ein wenig an Leonard Bernsteins „West Side Story“. Nach einem Break wechselt es zu spätromantischer Lyrik von Flöte und Oboe, die bei weiterhin verhaltenem Tempo die Tonalität des 20. Jahrhunderts annimmt. Zum Ende dieses nur acht Minuten währenden Stücks setzt sich nach einem langsamen Crescendo eine Mischung aus Jazz und Anklängen an die Klassik durch. Man kann diese Komposition durchaus als Metapher auf Krieg, Sehnsucht nach Frieden und Wiederaufbau verstehen. Will Humburg arbeitete mit dem Orchester die unterschiedlichen Stilebenen sowie die Ausdrucksbreite von Expressivität bis Introvertiertheit heraus und zeigte deutlich den Übergangscharakter dieser Musik zwischen Spätromantik und Moderne.
Danach erklang mit Ludwig van Beethovens 7. Sinfonie ein Werk, das durchaus auch den Beinamen „Furioso“ tragen könnte (sie hat ja im Gegensatz zur 5. keinen). Der klassische langsame Satz – „Andante“ oder „Adagio“ – weicht hier einem „Allegretto“, das zwar in vielem die Züge eines langsamen Satzes zeigt und auch als Trauermarsch wie in der 3. Sinfonie durchgehen könnte, aber durch sein straffes Tempo doch eher einen vorwärtsdrängenden Charakter entwickelt. Will Humburg ließ das Orchester des Staatstheaters nach dem fast majestätischen Beginn der ersten Takte zu einer energischen Interpretation übergehen, die neben einer ausgesprochen präzisen Dynamik auch die zwischenzeitlichen tänzerischen Elemente betonte. Der sich unmittelbar anschließende zweite Satz zeichnete sich durch ein straffes Tempo und durch das warme Timbre der Bratschen aus. Der Spannungsbogen blieb auch im langsamen, fast innerlichen Mittelteil erhalten und steigerte sich noch einmal im abschließenden Crescendo mit dem Thema. Das „Presto“ – kein „Scherzo“! – des dritten Satzes begann sofort mit hohem Tempo und könnte bei jeder Sinfonie der Klassik als Finalsatz durchgehen. Hier fielen vor allem die sorgfältige Phrasierung des langsamen Mittelteils und die präzisen Tempo- und Spannungswechsel auf, die dem Satz ein ausgeprägtes Eigenleben verliehen. Der letzte Satz schließlich kam mit seinen geradezu galoppierenden Themen sowie den verschlungenen instrumentalen Verbindungen und den versetzten Rhythmen geradezu „furios“ daher. Nicht umsonst waren Zeitgenossen Beethovens vor allem von diesem Satz irritiert und bezeichneten ihn bisweilen als „Chaos“ und den Komponisten einen „Irren“. Wir, die wir heute ganz andere Musik gewohnt sind, lassen uns von dieser ausgeprägten Dynamik gefangen nehmen und sehen darin eher heftige Emotionen als das Chaos regieren. Will Humburg holte in diesem Finalsatz noch einmal alles an Konzentration und Dynamik aus dem Orchester heraus und rundete damit die Interpretation dieser Ausnahme-Sinfonie zu einem gelungenen Höhepunkt des Abends ab.
Dimitri Schostakowitschs Oper „Orango“ kam offensichtlich nie über den Prolog hinaus, den man erst 2004 zufällig bei der Durchsicht alter Dokumente fand. In der Oper geht es um eine Hybridwesen aus Mensch und Affe, das elementarer Sprachleistungen und Denkvorgänge fähig ist und einem ausgewählten Publikum vorgestellt werden soll. Dabei greift er – offensichtlich in seelischer Not – eine Fremde an, der er seine Fähigkeiten zeigen soll. Ende des Prologs.
Das Staatstheater hat diesen Prolog semi-szenisch aufbereitet, wobei das Orchester auf der Bühne etwas zurückgesetzt spielt und davor die Handlung in knapper Form aufgeführt wird. Neben dem Affenmenschen (Gerardo Garciacano, Bariton) treten in den Hauptrollen noch ein Redner (Tobias Schabel, Bass), ein Zoologe (Michael Pegher, Tenor) und die Fremde Susanna (KS Kathrin Gerstenberger) auf. Die Handlung verweist in der Rede des Sprechers auf die üblichen Lobpreisungen der sowjetischen Funktionäre hin, die jedoch derart ambivalent gehalten sind, dass man die dahinter stehende Ironie nur mit viel Wissen um den Komponisten verstehen konnte. Heute weiß man, dass Schostakowitsch diese Gratwanderung als Selbstschutz inszenierte und die richtige Interpretation dem Publikum überließ, ohne das Misstrauen der Zensoren zu wecken.
Bei dieser Musik erstaunt in erster Linie die herkömmliche Tonalität, die deutlich von der modernen Musik der frühen 30er Jahre im Westen – in Deutschland vor 1933! – abweicht. Auch das ist eindeutig der musikalischen Dogmatik Stalins geschuldet, die eine „positive“ anstelle einer „intellektuell zersetzenden“ Musik verlangte. Man muss eine eventuelle (bittere) Ironie zwischen den Notenzeilen suchen. Der Prolog beginnt mit einer gravitätischen Fanfare und geht dann in eine bewegte, fast heitere Einleitung der Streicher über, die man fast als herkömmliche Ouvertüre auffassen könnte. Ähnlich ist es mit den orchestralen Zwischenspielen, die zeitweise sogar an Tschaikowsky erinnern. Dann wieder stehen martialischer Jubel und repräsentative Darstellung im Vordergrund, genau wie es die Partei verlangte. Die gesanglichen Einlagen sind dagegen modern in dem Sinne, dass sie nicht aus „schönen“ Arien bestehen, sondern – wie seit Richard Wagner üblich – aus einem Gesang, der den Duktus der gesprochenen Worte nachbildet. Hier konnte Schostakowitsch den modernen Duktus durchaus mit dem Argument der Verständlichkeit verteidigen.
Ensemble und Orchester präsentierten diese musikalische Seltenheit durchaus mit Ernsthaftigkeit und künstlerischem Engagement und verzichteten auf jegliche unangebrachte Ironie der Komposition gegenüber. Die Darsteller schafften es sogar, die unterschwellige Ironie und Distanz des Komponisten gegenüber den kulturellen Dogmen des Sowjetregimes zum Ausdruck zu bringen, indem sie die Szenen minimal in der politisch gewünschten Richtung übertrieben. Damit wurde auch die Gratwanderung der damaligen Komposition sichtbar, die zu Sowjetzeiten nicht zur Aufführung kam. Heute stellt sie ein wertvolles musikalisches Zeitzeugnis dar, dessen künstlerischer Wert sich hauptsächlich aus den Umständen erklärt. So können auch musikalisch eher unbedeutende Werke langfristig eine ungeahnte Ausdruckskraft entwickeln.
Frank Raudszus.
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