Hätte Molière seinen posthumen Landsmann Sartre gekannt, so hätte er dessen Ausspruch über das Wesen der Hölle sicher aus ganzem Herzen zugestimmt. Jedenfalls ist das seiner sogenannten Komödie „Der Menschenfeind“ zu entnehmen, die sich so gar nicht komödiantisch gibt, sofern man die landläufige Auffassung dieser Theatergattung heranzieht. Zu lachen gibt es in diesem Stück im Grunde genommen wenig, und wenn, dann müsste einem dieses Lachen eigentlich im Halse stecken bleiben, denn Molière rechnet darin gnadenlos mit der Eitelkeit, dem Egoismus und dem Neid seiner Zeitgenossen ab. Und die Kostümierung der Darsteller in moderne Kleidung ist nicht unbedingt erforderlich, um die Zeitlosigkeit dieser menschlichen Schwächen zu verdeutlichen.
Wenn die Zuschauer den Saal des Kleinen Hauses betreten, starrt ihnen von der Bühne ein Reihe von Sitzen entgegen, die genau denen gleichen, auf denen sie sich gleich niederlassen werden. Zwar kann man die Feststellung, dass Theater immer auch Spiegel der Gesellschaft sei, mittlerweile getrost als Allgemeinplatz betrachten, doch hier konkretisiert sie sich noch einmal im Bühnenbild. Deutlicher kann ein Bühnenbild kaum ausdrücken, dass man in den nächsten eineinhalb Stunden die Archetypen des Publikums an den Pranger stellen wird. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind natürlich rein zufällig und angesichts der Entstehung dieses Textes vor nahezu 350 Jahren praktisch unmöglich.
Doch Regisseur Michael Helle belässt es nicht bei dieser metaphorischen Geste des Bühnenbildes, das übrigens keine weiteren Requisiten aufweist. Noch während die Zuschauer ihre Plätze einnehmen, erscheint Matthias Lodd als Alceste im eleganten Abendanzug auf der Bühnen und setzt sich in die Mitte der Sesselreihe, wie ein auf die Aufführung wartender Theaterbesuicher in die realen Ränge schauend und dabei sogar im passenden Programmheft blätternd. Diese Szene ohne Worte zieht sich ganz bewusst über gut zehn Minuten hin, mit vielen kleinen mimischen und gestischen Ritualen, wie sie ein einzelner und äußerst ironisch-kritischer Theaterbesucher sich zueigen gemacht haben mag. Diese penetrante Beobachtung des Publikums von der Bühne aus übt durchaus einen irritierenden Reiz aus, kehrt sie doch für einen kurzen Moment die Verhältnisse am Theater in ihr Gegenteil um.
Wenn dann Alcestes Freund Philinte – Tino Lindenberg im grauen Straßenanzug und Krawatte – erscheint und sich ungefragt neben ihn setzt, beginnt sofort das gereimte Wortgefecht um Alcestes konsequente Wahrhaftigkeit und Philintes Zugeständnisse an gesellschaftliche Konventionen. Diese erste Szene klärt sozusagen Ausgangspunkt und Konfliktpotential des Stücks. Alceste sagt immer ungeschminkt das, was er denkt, macht niemandem falsche Komplimente und meidet Leute, die ihm unsympathisch sind. Da diese Antipathie nahezu die gesamte Pariser Gesellschaft betrifft, lebt er mittlerweile ziemlich isoliert und zerstreitet sich jetzt sogar mit Philinte, da dieser einigen ihm erklärtermaßen unsympathischen Leuten in aller Öffentlichkeit sehr freundlich begegnet sei. Alcestes Haltung wird auch gleich praktisch auf die Probe gestellt, als der ältliche und eitle Oronte (Hubert Schlemmer) ihm ein Sonett an eine geliebte Frau vorliest und ihn um seine ehrliche Meinung bittet. Entgegen allen gesellschaftlichen Konventionen verreißt Alceste das Gedicht mit vernichtenden Worten, die den Autor mit Tränen in den Augen und Wut im Herzen von der Bühne treiben und vor Gericht ziehen lassen. Alceste hofft geradezu darauf, den Prozess zu verlieren, um seine Einstellung Staat und Gesellschaft gegenüber bestätigt zu sehen.
Im Mittelpunkt der Handlung steht jedoch nicht (nur) Alceste sondern die schöne Witwe Célimène (Christina Kühnreich), die sich von allen Männern den Hof machen lässt und keinem die Hoffnung raubt. Alceste liebt sie unsterblich und sie erwidert diese Liebe auch bis zu einem gewissen Grad, ist jedoch nicht bereit, die anderen Männern endgültig abzuweisen und sie aus ihrem Gesichtskreis zu verbannen, sei es aus pragmatischen Gründen, sei es, weil sie deren Anbetung genießt. Célimènes Cousine Éliante (Diana Wolf) liebt Alceste ebenfalls, wagt jedoch nicht, ihre Liebe zu zeigen, und hofft auf eine Abweisung Alcestes seitens Célimènes und die anschließende Zuwendung Alcestes. Doch sie alle haben nicht mit der ebenso prüden wie intriganten Arsinoë gerechnet, für die sich wegen ihres graumäusigen Aussehens und ihres bigotten Wesens kein Mann interessiert. Nach einer süßlich-verlogenen Auseinandersetzung mit der beneideten und gehassten Célimène setzt sie ein intrigantes Räderwerk in Bewegung. Als ein Liebesbrief Célimènes an einen anderen Mann in Alcestes Hände gelangt – wie wohl? -, sagt sich dieser wutenbrannt von ihr los und hofft doch nur, dass sie den Brief widerlegen kann. Als auch noch die beiden reichlich dekadenten Adligen Acaste (Stefan Schuster) und Clitandre (Tom Wild), die ebenfall um Célimène werben, mit wechselseitig den jeweils anderen verspottenden Briefen auftauchen, ist Célimène endgültig bloßgestellt. Dennoch bietet Alceste der – im wahrsten Sinne des Wortes – am Boden zerstörten Célimène an, mit ihr irgendwo aufs Land zu ziehen, doch sie lehnt ab, weil sie die Großstadt und die Gesellschaft braucht. Als Alceste daraufhin seine Liebe großherzig (!) Éliante anbietet, will diese nicht so offensichtlich zweite Wahl sein, weist jedoch auch den plötzlich seinen Weizen blühen sehenden Philinte ab. Am Ende stehen alle allein da, und Alceste kündigt an, aufs Land zu ziehen.
Michael Helle hat seiner Inszenierung die neue Übersetzung von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens zugrunde gelegt, die sich durch eine moderne Umgangssprache auszeichnet. Dennoch ist den beiden Übersetzern das Kunststück gelungen, dabei die Reimform zu erhalten. Daraus ergeben sich viele überraschende und oftmals komische sprachliche Momente, die nie in die Plattheit abgleiten und immer ein wenig von dem französischen „Esprit“ in die deutsche Version hinüberretten. Eine Reihe von spontanen Lachern aus dem Publikum ist mehr auf die sprachliche Wirkung als auf die eigentliche Handlung zurückzuführen. Außerdem bewahrt diese Version neben dem Reim auch weitgehend Rhythmus und Versmaß des Originals, ohne deswegen den modernen Sprachduktus zu verbiegen. Die Übersetzung alleine ist schon ein kleines Kunstwerk, und die Schauspieler verleihen ihr durch ihr wohl artikuliertes und emphatisches Spiel eine hohe Wirkung.
Die neue Übersetzung dient natürlich nicht nur der Entstaubung und einer besseren Akzeptanz, sondern soll vor allem die zentrale Aussage des Stücks in die Gegenwart transportieren. Da geht es um die Konvention und vor allem um den Graubereich zwischen Schweigen und Lüge, in dem sich heutzutage – und wahrscheinlich schon immer – vor allem die Politiker, aber auch Karrieristen hervorragend auskennen. Alceste vertritt hier den hypothetischen Sonderfall des kompromisslos ehrlichen Zeitgenossen, der nicht nur immer seine Meinung offen ausspricht sondern auch einen extrem hohen Maßstab bezüglich Ehrlichkeit an seine Mitmenschen anlegt. Wenn dann aber Célimène ihm ehrlich sagt, dass sie die Briefe tatsächlich geschrieben hat, will er es dennoch nicht hören, wird also selbst zum Opfer seiner hohen Ansprüche. Nebenher führt Molière die zeitlosen Archetypen der Aufschneider und Schwadroneure vor, die sich gerne in der Öffentlichkeit produzieren und auf Kritik überaus empfindlich reagieren. Mit Oronte sind wohl auch Molières Zunftgenossen gemeint, die oftmals Anspruch und Können miteinander verwechseln. Die adligen Dandys von damals sind die heutigen Investment-Banker, die wie damals jene ebenfalls vor einem grundlegenden Bedeutungsverlust stehen. Helle hat die einzelnen Typen durch Kostüm und Auftreten sorgfältig auf die heutige Zeit übertragen, dabei jedoch auf jegliche vordergründige Zuordnung verzichtet. Selbst die intrigante Arsinoë, die sich für eine „Knallcharge“ geradezu anbietet, weckt trotz ihrer Intrigen noch ein gewisses Mitgefühl für ihre wenig beneidenswerte Lage. Und der Dichter Oronte ist nicht nur ein eitler Schwätzer sondern ein verzweifelt um sein Selbstverständnis ringender biederer Bürger.
Diese konturenreiche Ausgestaltung der einzelnen Rollen lässt sich natürlich nur mit einem guten und engagierten Ensemble erreichen, und über das konnte Michael Helle in dieser Inszenierung verfügen. Allen voran verkörpert der noch junge Matthias Lodd den Ehrlichkeitsfanatiker Alceste glaubwürdig und überzeugend. Sein Menschenfeind ist eigentlich keiner sondern – in ironischer Invertierung des Titels – eher ein Menschenfreund, der nur mit der notorischen Unehrlichkeit seiner Umwelt nicht umgehen kann. Lodds Alceste ist eher ein enttäuschter Idealist denn ein Menschenhasser, und seine Tragik besteht darin, dass er ausgerechnet an der Ehrlichkeit einer Frau zerbricht. Lodd spielt die sich langsam steigernde innere Verzweiflung des Alceste durchgehend mit hoher Glaubwürdigkeit und Spannung und fällt nie in Klischees.
Ihm zur Seite steht Christina Kühnreich als „lustige Witwe“ Célimène, die ihr Leben genießen und möglichst viele Verehrer um sich scharen will. Mit viel Geschick, Charme und sparsam hingestreuten Liebesbeweisen hält sie alle Verehrer bei der Stange, bis der Brief-Eklat das ganze filigrane Gebäude zerstört. Christina Kühnreich zeigt in dieser Rolle eine breite Palette von Ausdrucksmöglichkeiten und ist besonders in den Zweierszenen mit dem insistierenden Alceste oder der zuckersüß-bösartigen Arsinoë stark. Mit Gabriele Drechsel hat sie in dieser Szene auch eine versierte Partnerin, die ihre Rolle der ewigen Verliererin nicht mit der Häme der Klischee-Intrigantin gestaltet, sondern der armen Arsinoë einen Rest von Würde lässt. Ihre Arsinoë möchte auch ein Stück des großen (Liebhaber-)Kuchens abbekommen, sieht sich aber ohne Chancen und kämpft deshalb mit allen ihr zur Verfügung stehenden Waffen gegen die vermeintlichen Gewinner und eine ungerechte Welt. Je länger man ihr zuschaut, desto mehr erkennt man die Komplexität dieser Figur.
Diana Wolf spielt die Éliante mit der gebotenen Zurückhaltung einer Nebenrolle, gestaltet jedoch auch diese mit Glaubwürdigkeit und Sinn für die feinen Töne und die Psychologie der ewigen Zweiten. Hubert Schlemmer fühlt sich in der Rolle des eitlen Oronte sichtlich wohl, kann er doch hier alle Register in der Darstellung typischer menschlicher Schwächen ziehen. Und doch belässt er seinem Oronte trotz dessen offensichtlicher Schwächen ein Stück Würde und Sympathie. Tom Wild und Stefan Schuster treten als Clitandre und Acaste stets im Doppelpack auf und spielen sich dabei gekonnt die Bälle zu. Stefan Schusters kurzer Monolog über die Vorzüge seines Acaste hat dabei fast kabarettistischen Einschlag. Tino Lindenberg hat es diesmal etwas schwer, spielt er doch den vernünftigen, stets ausgleichenden Philinte. So hat er wenig Möglichkeiten, sein schauspielerisches Können voll auszuspielen. Ihm geht es ein wenig wie seiner Figur: Philinte wird nie selbst aktiv, sondern hofft, dass aus den Querelen der anderen etwas für ihn herauskommt. Tino Lindenberg kann dieser ein wenig statischen Figur letzlich auch keine schauspielerischen Glanztaten abtrotzen. Bleibt noch zu erwähnen Gerd K. Wölfle, der als Diener Dubois einen kurzen Auftritt hat.
Das Publikum zeigte sich begeistert von dieser temporeichen psychologischen Studie und spendete reichlichen und kräftigen Beifall.
Frank Raudszus
Alle Fotos © Barbara Aumüller
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