Das Staatstheater Darmstadt und die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt (HfMDK) inszenieren gemeinsam Francesco Cavallis Oper „La Calisto“
Das Staatstheater Darmstadt hat sich unter der neuen Intendanz für Experimente aller Art geöffnet. Das mag zwar nicht immer künstlerische Glanzleistungen zur Folge haben, aber es bietet doch die Möglichkeit neuer Perspektiven und erfrischender Interpretationen. Das ist eindeutig der Fall bei Cavallis Oper „La Calisto“, die Jahrhunderte lang in den Archiven schlummerte und erst im Zuge der Neuentdeckung des Barocks und vor allem der „historischen Aufführungspraxis“ wiederentdeckt wurde. Die Ausgrabung dieser Rarität wäre an sich nichts Außergewöhnliches, erst die Zusammensetzung des Ensembles verleiht der Inszenierung diesen Charakter. Sieben der insgesamt vierzehn Rollen wurden mit Studenten der HfMDK besetzt, und im – höher gelegten – Orchestergraben spielten ebenfalls Musikstudenten der HfMDK unter der Leitung des Ersten Kapellmeisters Michael Nündel.
Doch der Dirigent und sein Orchester konnten sich nicht auf eine fertige Partitur verlassen. Der Komponist hatte über weite Strecken der Oper nur die Basslinien ausgeschrieben und es den Musikern selbst überlassen, wie sie diese Basslinien mit ihren jeweiligen Instrumenten umspielten. Das führte dazu, dass jede der – allerdings nur wenigen – damaligen Aufführungen eine Art Uraufführung darstellte. Natürlich kann man heute dem Publikum eine solche Vorgehensweise nicht mehr zumuten, und die freie Wahl der Interpretation einer dünnen Basslinie durch gut ein Dutzend Musiker würde wohl – wie beim „free Jazz“ – zu einem ziemlichen Chaos führen. So hatten Professor Albers von der HfMDK und Joachim Enders – Studienleiter am Staatstheater Darmstadt – sich der Aufgabe gewidmet, aus Cavallis Material ein konsistentes musikalisches Konzept zu entwickeln. Das Ergebnis lässt sich hören und zeigt unmissverständlich, dass sich beide „Ko-Komponisten“ dem barocken Geist verpflichtet fühlen und auf jegliche musikalische Modernisierung verzichtet haben. Auf diese Weise entstand eine Inszenierung, die uns zurückführt ins 17. Jahrhundert, als die Oper vor allem in Italien Triumphe zu feiern begann.
Die Handlung folgt der damaligen Neigung zu mythischen Themen. An Fürstenhöfen waren gesellschaftliche Themen mit konkreten Alltagssituationen und -personen nicht gern gesehen, und ein Autor konnte sich mit kritischen Stücken über gesellschaftliche Zustände leicht in die Nesseln setzen. So beutete man die griechische und römische Götterwelt nach Belieben aus, um anhand dieser scheinbar unverfänglichen Figuren typisch menschliche Verhaltensweisen und prekäre gesellschaftliche Verhältnisse zu entlarven. Da standen dann die Götter für den Adel und die Nymphen, Satyrn und Schäfer für das einfache, meist unterdrückte Volk. Zeus alias Jupiter mit seinen zahllosen Seitensprüngen erinnerte dabei deutlich an die (Un-)Sitten an den Herrscherhöfen.
So verläuft auch diese Oper nach dem geschilderten Muster. Jupiter besichtigt zusammen mit Merkur die verödete Erde und verliebt sich prompt in die schöne Nymphe Calisto, die zu Dianas Gefolge zählt und diese liebt. Jupiters sofortigen Annäherungsversuch weist sie brüsk ab, woraufhin dieser sich ihr in Gestalt Dianas – seiner Tochter! – nähert und nun den erhofften Erfolg einfährt. Als sich Calisto kurz darauf der echten Diana zärtlich näher, jagt diese sie davon und verwirrt sie damit zutiefst. Diana selbst ist in den schönen Schäfer Endymion verliebt und dieser in sie. Doch da sich Mensch und Göttin nicht paaren dürfen, muss die Liebe heimlich genossen werden. Da auch noch der von Diana abgewiesene Pan hinter ihr her ist und der Satyr hinter Dianas äußerst keuscher Begleiterin Linfea, geht es erotisch bald drunter und drüber. Schließlich kommt die ewig zu Recht misstrauische Juno hinter den Seitensprung ihres Gatten und verzaubert Calisto in einen Bären. Jupiter kann das nicht rückgängig machen, aber setzt Calisto stattdessen als Sternbild „Großer Bär“ an den Himmel und gewährt ihr damit die Unsterblichkeit. Das Ganze wird gerahmt – ähnlich wie später in Goethes „Faust“ – von einem Prolog im Himmel. Dort wachen die „Natur“ und die „Ewigkeit“ über das Treiben der Menschen und sehen sich mit der Forderung des „Schicksals“ konfrontiert, Calisto das ewige Leben zu schenken. Wie es das Schicksal so will, wird diese Forderung erfüllt – siehe oben.
Regisseurin Cordula Däuper hat sich bei dieser Inszenierung eng an das barocke Bühnenzeitalter gehalten. Nachdem die Oper zu einer kommerziellen Angelegenheit auch für Bürger geworden war, ging es darum, kostengünstig zu produzieren: einfache Bühnen, kleine Ensembles, preiswerte Requisiten und „schlanke“ Orchester. Auf dieser Basis hat Ralph Zeger eine einfache Holzkonstruktion als „Bühne auf der Bühne“ errichtet: ungestrichene Balken und ein nach allen Seiten offenes Viereck. Die Darsteller kommen zu Beginn mit Namensschildern wie „Juno“ oder „Jupiter“ auf die Bühne, um den Zuschauern die Orientierung zu erleichtern. Wer nicht spielt, wartet neben der Holzbühne an der Seite der realen Bühne auf seinen nächsten Auftritt oder geht ganz ab, zum Beispiel, um sich umzukleiden. Dazu hat Sophie du Vinage opulente Kostüme geschaffen: Jupiter in einem eleganten Kostüm irgendwo zwischen Barock und Rokokko, Calisto mit einem rosa Fummel, Diana im strengen Jagdkostüm mit hoch aufgetürmter Frisur und Juno mit weit ausgestelltem Reifrock. Es gibt also viel zu sehen.
Als besonderen Gag hat die Regisseurin die „Natur“ (Elisabeth Hornung) und die „Ewigkeit“ (Anette Luig) auf dem galerieartigen Dach der Holzbühne platziert. Dort beobachten sie im Dress zweier distinguierter älterer Damen strickend und Sekt trinkend das Geschehen auf der menschlichen Bühne und legen ihrer kommentierenden Mimik und Gestik keine Fesseln an. Sie erinnern dabei an die beiden älteren Herren Waldorf und Staedler aus der „Muppet Show“, und diese Assoziation mag auch beabsichtigt sein. Später werden die beiden noch als Furien agieren und Calisto in einen Bären verwandeln. Außerdem führt eine Falltür noch in das Untergeschoss der Holzbühne, wo sich unter anderem Jupiter und Calisto heimlich vergnügen. Die Inszenierung spielt sich also in drei Ebenen ab: der Meta-Ebene der ewig gültigen Naturgesetze, der fehlbaren göttlichen(!) und menschlichen Welt sowie der Unterwelt der heimlichen weil unstatthaften Genüsse.
Das Ensemble präsentiert die erotischen und sonstigen Verwicklungen und Verwirrungen mit viel Witz und Ironie, die nur von einer dünnen Tünche der höfischen Moral überzogen sind. Die Beteuerungen von Keuschheit und Abstinenz klingen ebenso durchsichtig wie Jupiters Werbung um die schöne Calisto. Doch: „mundis vult decipi“ – die Welt will betrogen werden, und so glaubt man das, was man als Betrug durchschauen könnte, wenn man nur genau hinsehen könnte. Bewusst ist Jupiters Diana-Verkleidung dilettantisch gehalten, um die Leichtigkeit der Täuschung und die Bereitschaft, sich täuschen zu lassen, zu zeigen. Worte und Taten klaffen weit auseinander, was man am besten bei Linfea nachvollziehen kann, die stets ihre Keuschheit betont, dann aber um jeden Preis einen Mann erringen möchte. Gerade der vordergründige Ernst und das pompöse Auftreten mancher Akteure lassen den Kontrast zu den durchsichtigen Zielen und Absichten deutlich werden und sorgen damit für eine gehörige Portion Witz.
Die Musik liefert zu dem erotischen Spektakel die passende Untermalung. Nie dominiert sie, meist kommentiert sie die Klagen und Sehnsüchte der Figuren mit harmonischen und melodischen Wendungen. Dabei fällt auf, dass die Barockoper in gewisser Weise Richard Wagners Konzept der „durchkomponierten“ Oper schon vorwegnimmt. Es gibt noch nicht die Unterscheidung zwischen gesprochenen, die Handlung treibenden Passagen und den Bravour-Arien, sondern von Anfang bis Ende singen die Darsteller sämtliche Texte in einem rezitativähnlichen Stil, der die Verständlichkeit des Textes erleichtern soll. Koloraturen und Wort- oder gar Satzwiederholungen sind selten, die Musik folgt im Grunde der Grundmelodie des gesprochenen Textes – ganz wie Wagner es forderte und auf seine Weise umsetzte. Jedoch mit dem Unterschied, dass die Orchestermusik bei Cavalli eine geringere Rolle spielt und anderen melodischen und harmonischen Konventionen verhaftet ist. Die barocke Oper ist geprägt von einem klagenden Grundtenor, der sich durch lang gezogene Motive mit meist absteigender Linie auszeichnet. Schicksalsgläubige Sehnsucht und resignative Wehmut prägen vor allem die Opfer der Täuschungen und Verwirrungen, sprich: die einfachen Menschen.
Die Darsteller überzeugen durchweg mit großer Spielfreude und beeindruckenden stimmlichen Leistungen, wobei die Studenten der HfMDK in keiner Weise gegen die professionellen Ensemblemitglieder abfallen. Das gesamte Ensemble spielt wie aus einem Guss und vermittelt den Eindruck einer seit langem aufeinander eingespielten Truppe. In der Titelrolle zeichnet sich Katja Stuber durch darstellerische und stimmliche Variabilität und hohe Präsenz aus. Neben ihr überzeugt Jana Baumeister als Diana mit starker Stimme und einem resoluten Auftreten, wie man es von der Göttin der Jagd erwartet. Amira Elmadfa gibt eine resolute Juno mit beachtenswerter Bühnenpräsenz, und Ulrike Malotta (HfMDK) berührt das Publikum mit ihrer intensiven Interpretation des naiven Hirten Endymion. Ähnliches gilt für Samantha Gaul (HfMDK) als Linfea und Penelope Mason als Satyr. Michael Pegher gibt einen völlig aus den Fugen geratenen Pan, und Riccardo Romeo (HfMDK) spielt den Merkur als Zyniker, der unter seiner Dienstbotenrolle für Jupiter leidet. Dessen Rolle musste kurz vor der Premiere Miroslav Stricevic für den erkrankten David Pichlmayer übernehmen und entledigte sich dieser Aufgabe auf souveräne Weise.
Das Publikum war begeistert und feierte alle Beteiligten samt Orchester und Regie mit lang anhaltendem Beifall.
Frank Raudszus
Alle Fotos © Michael Hudler
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