Existenzieller Albtraum mit Längen

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Reiner Ortmann inszeniert in den Darmstädter Kammerspielen seine eigene Bühnenfassung von Kafkas Roman „Der Prozess“

Die großen Romane der Weltliteratur haben Theaterautoren immer wieder in Versuchung geführt, sie auf die Bühne zu bringen; mit durchaus unterschiedlichem Erfolg, denn die epische Struktur von Romanen widersetzt sich meist einer dramatischen Inszenierung. Das gilt natürlich im besonderen für die beiden enigmatischen Romane Franz Kafkas – „Der Prozess“ und „Das Schloss“ -, die sich durch Handlungsarmut und eine – meist nur leicht variierte – Wiederholung des Grundmotivs auszeichnen. Dazu kommt eine distanzierte, nüchterne Sprache, die auf jegliche Emotionalisierung verzichtet.

Nach verschiedenen Bühnenfassungen in den siebziger und achtziger Jahren, unter anderem von Peter Weiß, hatte zuletzt Andreas Kriegenburg das Romanfragment „Der Prozess“ in einer fast chaplinesken Fassung auf die Bühne der Münchner Kammerspiele gebracht. Jetzt hat Reiner Ortmann eine neue Bühnenfassung erarbeitet und auch gleich die Inszenierung am Staatstheater Darmstadt übernommen.

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István Vincze (Josef K.), Klaus Ziemann (Franz | Untersuchungsrichter | Advokat Dr. Huld u.a), Andreas Vögler (Aufseher | Student | Prügler u.a), Katharina Hintzen (Fräulein Bürstner | Frau des Gerichtsdieners | Leni u.a.), Simon Köslich (Willem | Gerichtsdiener u.a)

Bühenbildner Martin Apelt, im „Hauptberuf“ Schauspieldirektor am Staatstheater Darmstadt, hat in den Kammerspielen eine grau-schwarze Umgebung aus einer langen Wand sowie quadratischen Tischen mit Stühlen geschaffen. Die eher einer Abdunkelung gleichende Beleuchtung verstärkt noch den beklemmenden Eindruck dieser düsteren Einrichtung. Wenn das Publikum seine Plätze einnimmt, sitzen fünf Personen in dunkelgrauer, moderner Kleidung an den fünf Tischen, die Köpfe wie zum Schlaf in die Arme auf den Tischen gebettet.

Der berühmte erste Satz des Romans „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“ bildet denn auch im Theaterstück den Auftakt, nacheinander vorgetragen von allen Darstellern wie in einer Bachschen Fuge, erst klar voneinander getrennt, dann mit ineinander übergehenden Stimmen, bis diese Kakophonie der Stimmen plötzlich abbricht.

Von nun an wird der Inhalt des Romans von wechselnden Erzählern vorgetragen, wobei die Darsteller die Rolle des Erzählers und die einer handelnden Person übernehmen und der Rollenübergang fließend erfolgt. Natürlich hätte man aus dem Roman auch eine reine Dialogversion für die Bühne erstellen können, doch Ortmann hat erkannt, dass er damit dem Stück zwangsläufig zu viel konkretes Leben eingeflößt hätte, was dem Roman nicht entsprochen hätte. Das Beklemmende an diesem Roman ist ja gerade, dass er nicht nur keine echten menschlichen Beziehungen darstellt, sondern sie quasi für unmöglich erklärt. Josef K. spricht zwar mit den Menschen seiner Umwelt, doch nur in einer distanzierten Amtssprache, die jegliche Emotionalität ausschaltet. Liebe, Hass, Eifersucht, Neid, Missgunst und Sehnsucht sind den Protagonisten des Romans fremd. Wenn sie miteinander sprechen oder sich gar einander helfen, dann nur, um ihre eigene Situation durch einen Kontakt zu verbessern. Auch K.s Vorhaltungen gegenüber den Beamten der ihn verhaftenden Behörde sind eher von einem allgemeinen Ärger und einer Hilflosigkeit gegenüber den Unklarheiten und den fehlenden Auskünften als durch persönliche Wut geprägt. Ebenso erscheinen die Beamten nur als korrekte und emotionslose Funktionsträger. Die Frauen – die Nachbarin Fräulein Bürstner, die Frau des Gerichtsdieners und die Pflegerin des alten Advokaten –  zeigen zwar eine Spur mehr kommunikatives Entgegenkommen, konterkarieren dies aber sehr schnell durch die klare Artikulation eigener Interessen.

Andreas Vögler (Aufseher | Student | Prügler u.a), István Vincze (Josef K.), Katharina Hintzen (Fräulein Bürstner | Frau des Gerichtsdieners | Leni u.a.), Simon Köslich (Willem | Gerichtsdiener u.a), Klaus Ziemann (Franz | Untersuchungsrichter | Advokat Dr. Huld u.a)

Andreas Vögler (Aufseher | Student | Prügler u.a), István Vincze (Josef K.), Katharina Hintzen (Fräulein Bürstner | Frau des Gerichtsdieners | Leni u.a.), Simon Köslich (Willem | Gerichtsdiener u.a), Klaus Ziemann (Franz | Untersuchungsrichter | Advokat Dr. Huld u.a)

Josef K. dreht sich in diesem Karussel der Absurditäten hilflos im Kreise. Obwohl man ihn verhaftet hat, kommt es aus den lächerlichsten administrativen Gründen zu keinem Verhör, und ebensoweinig erhält er eine Anklageschrift oder zumindest eine verbale Aussage zu seiner angeblichen Schuld. Nur gelegentliche Aussagen über den Stand seines Prozesses – der irgendwo in den geheimnisvollen Gängen der Behörde als Selbstläufer zu existieren scheint – erreichen ihn und klingen immer schlechter. Der Advokat Huld, den ihm sein Onkel besorgt, ist ein älterer, pflegebedürftiger Herr, der vor allem davon spricht, dass man Ruhe bewahren müsse und dass sich alles von selbst regeln werde. Erstarrte, altersbedingte Untätigkeit auch hier. Nur die junge Pflegerin sucht die Nähe zu K., aber auch sie kann und will ihm nicht wirklich helfen.

In dem Roman geht es auf diese quälende Weise zielsicher auf das Ende zu. Alle Versuche K.s, eine Erklärung oder gar eine Anklage zu erhalten, prallen an den stoischen Vertretern der Behörde ab. Schließlich holen ihn eines Abends zwei Herren in förmlicher Kleidung ab, führen ihn schweigend in einen Steinbruch und töten ihn dort auf eine Weise, die in ihrer korrekten administrativen Art geradezu rituelle Züge annimmt.

Man hat diesen rätselhaften Roman auf verschiedene Weise interpretiert, je nach politischer oder gesellschaftlicher Ausrichtung. Die einen haben darin die prophetische Beschreibung eines letztlich tödlichen Antisemitismus gesehen, andere eine Satire auf die undurchschaubare und ineffiziente Bürokratie der k.u.k.-Monarchie, noch andere eine allgemeine Abrechnung mit totalitären Systemen. Dagegen spricht jedoch die Tatsache, dass Antisemitismus und Totalitarismus zu Kafkas Zeiten noch gar nicht so ausgeprägt waren – selbst der in der Doppelmonarchie und im Wilhelminischen Reich durchaus vorhandene Antisemitismus galt eher den arrivierten als den kleinbürgerlichen Juden -, und für eine Satire auf die k.u.k.-Bürokratie fehlt der komische Aspekt. Kafka geht es um mehr als nur um die Bloßstellung eines um sich selbst kreisenden Behördenapparates; er hat sich mit diesem Roman eine existenzielle Angst um Schuld und Sühne von der Seele geschrieben, die wohl nur aus familiären und individualpsychologischen Konstellationen zu erklären ist. Der permanente Konflikt zwichen dem hochsensiblen Franz und seinem eher bodenständigen und cholerischen Vater dürften hier eine ebenso große Rolle gespielt haben wie eine elementare Lebensangst, die allerdings ein Grundelement der Generation vor dem Ersten Weltkrieg bildete. Damit spiegelt Kafkas Roman die Befindlichkeit einer Gesellschaft wider, die durch die rasante industrielle, politische und gesellschaftliche Entwicklung buchstäblich aus der Bahn geworfen war.

István Vincze (Josef K.), Simon Köslich (Willem | Gerichtsdiener u.a), oben: Katharina Hintzen (Fräulein Bürstner | Frau des Gerichtsdieners | Leni u.a.)

István Vincze (Josef K.), Simon Köslich (Willem | Gerichtsdiener u.a), oben: Katharina Hintzen (Fräulein Bürstner | Frau des Gerichtsdieners | Leni u.a.)

Reiner Ortmann hat der Versuchung widerstanden, den Roman zu aktualisieren und für den heutigen gesellschaftspolitischen Kontext auszuschlachten. Seine Personen tragen zwar heutige Kleidung, aber das ist schon das einzige Zugeständnis an den Zeitgeist. Ansonsten hält er sich – abgesehen von radikalen Kürzungen – an den Urtext und stellt diesen in den Mittelpunkt. Das bedrückende Ambiente der engen Amtsstuben, das hier auch gleich die anderen Lokalitäten – etwa K.s Zimmer, die Wohnung des Advokaten oder den Steinbruch am Ende – mit abdeckt, beherrscht die gesamte Inszenierung, und nur zum Schluss symbolisiert ein starker Scheinwerfer, auf den K. zugeht, den Tod. Eine einzige Tür in der den Bühnenraum zu beklemmender Enge verkürzenden Wand dient Auf- und Abtritten der Darsteller und übernimmt dabei auch noch dramaturgische Aufgaben. Denn durch diese Tür naht immer wieder das Unheil, und durch diese Tür versucht K. verzweifelt, in das innere der Behörde vorzudringen. Obendrein lässt Ortmann die Darsteller auf eine Weise durch die Tür auftreten, dass der Kopf bis zum letzten Augenblick hinter der Wand verschwindet. Die Beamten der Behörde erscheinen so als kopflose, sprich entindividualisierte Wesen. Darüber hinaus verleiht die zentrale und geradezu transzendente Parabel über die Türhüter dieser Tür zusätzliche Bedeutung. Ein weiterer Regieeinfall, der diese Inszenierung auflockert und den bedrängenden Charakter der Situation veranschaulicht, besteht darin, dass Ortmann ganze Szenen, unter anderm die mit dem Gerichtsmaler, unter den Tischen spielen lässt, wo sich bis zu drei Darsteller in engster körperlicher Verschlingung drängeln.

Die Darsteller setzen Ortmanns Vorstellung konsequent um. István Vincze ist ein ratlos umherirrender, zunehmend verzweifelter Josef K., dessen Hilflosigkeit jedoch stets in dem Korsett einer hierarchischen Standesgesellschaft verharrt. Kein Heulen oder Zähneklappern, nur Insistieren auf Erklärungen und am Ende Hinnehmen des Unvermeidlichen. Katharina Hintzen, Andreas Vögler, Simon Köslich und Klaus Ziemann übernehmen abwechseld die anderen Rollen – Wächter, Beamte, Onkel, Advokat und die diversen Frauen -, können dabei aber keine schauspielerischen Lorbeeren ernten, da diese Rollen bewusst zurückgenommen sind, so wie auch Kafka sie nicht als Menschen aus Fleich und Blut sondern als Erfüllungsgehilfen eines undurchschaubaren Systems oder als dessen Nutznießer und Komplizen sieht. Keiner von ihnen wird in K.s Augen zu einem Menschen.

Obwohl Ortmann und die Darsteller die existenzielle Verunsicherung und Beklemmung überzeugend darstellen, können sie nicht die Längen vermeiden, die sich vor allem in der Mitte der Inszenierung ergeben. Bietet der Anfang noch gewisse Überraschungen bzw. die Beschreibung einer ungewöhnlichen Situation, wird diese im Folgenden nur noch variiert, ohne dass sich etwas grundlegend ändert. Gerade Kafkas Anliegen, das Unausweichliche, die tödliche Mechanik der Abläufe zu zeigen, führt zu einem Einbruch der Spannung, so man bei diesem Stück überhaupt von Spannung in herkömmlichem Sinn reden kann. Ist das gesamte Stück schon – wie auch der Roman – sehr kopf- und phantasielastig, so steigert sich diese handlungsarme Konzentration auf die Befindlichkeit des Protagonisten K. im Laufe der Aufführung und lässt die Intensität absinken. Ob dies am Stück, an der Regie, den Darstellern oder am begrenzten Konzentrationsvermögen des Publikums liegt, sei dahingestellt. Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus allen vier Gründen.

Der Beifall des Premierenpublikums fiel freundlich aus, aber ohne Emphase. Aber das bei einer Kafka-Inszenierung zu erwarten, wäre wohl auch zu viel verlangt.

Frank Raudszus

Alle Bilder © Bettina Aumüller

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