Spannung, Brisanz und Tempo einer Finissage

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Die Komische Oper Berlin präsentiert am 29. Februar die letzte Aufführung von Leonard Bernsteins Musical „West Side Story“.

Einen solchen Theaterabend gibt es wahrlich nur alle vier Jahre – schon allein wegen des Schaltjahrs. In diesem Jahr passte die Rarität des Datums zum Ereignis: die letzte Aufführung einer Inszenierung, die aus urheberrechtlichen Gründen auf insgesamt 63 Auftritte begrenzt war. So kam dann dieser Abend auch wie eine „Finissage“ daher, natürlich ausverkauft, mit Karten suchenden  Berlinern „ante portas“ und mit einer fast schon melancholischen Abmoderation der Serie durch den Intendanten Barrs Kosky, der Bernsteins Klassiker auch selbst inszeniert hatte.  Dabei sorgte er gleich für die ersten Lacher, als er in einem Versprecher(?) sein Bedauern darüber ausdrückte, dass dies nun die letzte Aufführung einer wunderbaren Inszenierung sei; er meinte natürlich „wunderbares Stück“ und korrigierte das auch gleich fast schelmisch.

Sigalit Feig (Anita), Ensemble

Sigalit Feig (Anita), Ensemble

So war schon zu Beginn für gute Stimmung gesorgt bei einem Stück, das bei genauem Hinsehen alles andere als froh und heiter stimmt – vor allem in dieser Inszenierung. Das beginnt schon bei der „Ouvertüre“, wenn man denn das kurze Orchestervorspiel mit diesem herkömmlichen Begriff belegen will. Zuerst hört man, bei geschlossenem Vorhang, nur ein wiederkehrendes, ploppendes Geräusch, wie von einem auftippenden Ball. Und das erweist sich auch als der Grund, wenn sich der Vorhang hebt. Ein einsamer Basketballspieler, wie man ihn vom New Yorker Lokalkolorit einschlägiger Filme kennt, zieht einsam seine spielerische Bahn auf einer leeren, weitgehend schwarzen Bühne.

Das Fehlen eines konkreten Bühnenbildes wird bis zum bitteren Ende des Stücks währen. Außer zwei senkrechten Leitern links und rechts am vorderen Bühnenrand, auf denen Tänzer und Sänger bisweilen hochsteigen, und einem hin und wieder auf die Bühne geschobenen Bett breitet sich eine geradezu existenzielle Leere aus, die der sozialen und psychischen Situation der Protagonisten entspricht. Das Bett wird dann kurzzeitig zum flüchtigen Symbol von Geborgenheit und Intimität, das jedoch immer wieder der gewalttätigen Realität weichen muss.

Tansel Akzeybek, Julia Giebel

Tansel Akzeybek, Julia Giebel

Die Leere der Bühne hat jedoch noch einen anderen Grund: Regisseur Barry Kosky hat Leonard Bernsteins Musical vorrangig als Tanzstück inszeniert, da die Körpersprache sich viel besser als die bloße – hier auch noch reduzierte – Sprache dazu eignet, die labile und aggressive Grundstimmung zweier sozialer Verlierergruppen wiederzugeben, die überwiegend aus jungen Männern bestehen und sich gegenseitig bis aufs Blut bekämpfen: den „Jets“, dem gesellschaftlichen Bodensatz der lokalen Bevölkerung, und den „Sharks“, Migranten aus Puerto Rico, die hier ihr Glück suchen. Nach bewährtem gesellschaftlichem Brauch sind die Migranten – von den Jets nur „Kanaken“ genannt – die einzigen, denen sich die ausgegrenzte New Yorker Jugend vermeintlich noch überlegen fühlen kann. Die Luft ist also testosterongeschwängert, wenn sich die beiden Gruppen gegenüber stehen und die Fäuste ballen. Und die Polizisten, vor allem Schrank (Christoph Späth), gießen durch offene rassistische Äußerungen noch Öl ins Feuer. Diese Situation setzt Choreograph Otto Pichler in eine ganze Reihe scharf geschnittener Tanzszenen um, bei denen die Gruppenwirkung im Mittelpunkt steht. Hier kommen die ganze Perpektivlosigkeit und Frustration der jungen Männer ungeschminkt zum Ausdruck, die sich schließlich in mehr oder minder rituellen Revierkämpfen entladen.

Dass Intendant (und Regisseur) Barry Kosky bei der Planung dieser Inszenierung bereits die Flüchtlingskrise im Hinterkopf hatte, darf man bezweifeln, aber die Wirklichkeit hat vor allem den letzten Aufführungen eine geradezu erschreckende Aktualität verliehen. Die Nähe der „Jets“ zu Pegida und extremeren rechten Gruppierungen ist ebenso augenfällig wie die der „Sharks“ zu den Kölner Vorfällen. Hier findet ein Kulturkampf zwischen dem Besitzstandsdenken sowie der Zukunftsangst der einen und der kämpferischen Hoffnung auf der anderen Seite statt, in dem keiner nachgeben will und der sich zu wahren Hasstiraden steigert.

Ensemble

Ensemble

Der Rest der Handlung ist Melodram frei nach Shakespeares „Romeo und Julia“. Der bekehrte „Ex-Jet“ Tony(Tansel Akzeybek) lässt sich zu einem letzten Treffen anlässlich des Entscheidungskampfes gegen die „Sharks“ überreden und verliebt sich prompt in Maria (Katja Reichert), die Schwester des „Shark“-Bosses Bernardo (Zoltan Fekete). Bei dem Versuch, die Streithähne zu trennen, tötet Tony unabsichtlich Bernardo. Am Ende liegt er als anklagendes Mahnmal gegen Gewalt und Rache tot auf der Straße, beweint von Maria, die allen Beteiligten ihre Anklage ins Gesicht schleudert.

Den Gesamteindruck dieser denkwürdigen Inszenierung prägen die Tanzszenen. Die können jedoch nur im engen Verbund mit der Musik ihre volle Wirkung entfalten. Dirigent Koen Schoots hat zu diesem Zweck Bernsteins Musik zugespitzt und angeschärft. Das Unterhaltsame ist weitgehend aus dieser Musik verschwunden; von Beginn an beschreibt sie in sich reibenden Klängen und harten Rhythmen die ausweglose Situation zwischen den beiden Unterschicht-Gangs. Selbst die Liebeslieder – vielleicht außer dem bereits früh erklingenden „Maria“ – drücken mehr die verzweifelte Sehnsucht nach Frieden und Glück aus als eine harmonische Zweisamkeit. Bernardos Geliebte Anita (Sigalit Feig) spielt als Marias Vertraute eine zentrale Rolle. In dieser Inszenierung ist sie eine desillusionierte junge Frau, die die Männer und die Verhältnisse durchschaut und nur zu retten versucht, was noch zu retten ist. Unter existenziellem Druck greift aber auch sie fast kaltherzig zu grausamen Mitteln.

Ensemble

Ensemble

Die konfliktgeladenen Szenen folgen in einer solchen Dichte, dass sie geradezu nach einem auflockernden Gegenstück schreien, um nicht durch die schiere Menge zu ermüden. Zu diesem Zweck hat Barry Kosky die Liebesszenen bewusst als Inseln des Verhaltens und des Träumens in Szene gesetzt. Hier dürfen die beiden Hauptdarsteller ihr gesamtes lyrisches Potential ausspielen, was sie auch mit hoher Intensität und überzeugenden stimmlichen Leistungen tun.

Trotz einer anspruchsvollen Choreographie schafft das Ensemble es, vor allem wegen einer alltagsnahen Sprache, Authentizität herzustellen. Hier spielen nicht Tänzer und Tänzerinnen aggressive und kampfbereite Jugendliche, sondern diese treten sozusagen höchstpersönlich (in Gestalt der Darsteller) derart realitätsnah auf, dass einem bisweilen angst und bange werden kann. In bestimmten, besonders abgründigen Szenen wird obendrein das Licht so  weit abgedimmt, dass sich eine geradezu endzeitliche Stimmung ausbreitet.

Das gesamte Ensemble zeigt in dieser letzten Aufführung Höchstform. Da der Rezensent keine früheren Aufführungen gesehen hat, ist ihm ein Vergleich unmöglich, doch der subjektive Eindruck legt die Vermutung einer besonderen „finalen“ Anstrengung nahe. An diesem Abend stimmte alles: Tempo und Witz, Konsequenz und Kompromisslosigkeit, Musik und Tanz, Darstellung und Gesang. Bei allen Beteiligten sowie beim Publikum war am Ende das Bedauern über das Ende dieser Inszenierung zu spüren. Die Begeisterung der Zuschauer schlug sich am deutlichsten in den „standing ovations“ für Darsteller, Orchester und Regie nach dem tragischen Ende und den Abschiedsworten des Intendanten nieder. Doch für reisefreudige Musical-Liebhaber gibt es einen Hoffnungsschimmer: in zwei Jahren, 2018, soll diese Inszenierung in einer amerikanischen Version in Los Angeles wiederauferstehen. Also schon einmal den Termin im Langzeitkalender notieren reservieren und rechtzeitig Flüge buchen.

Frank Raudszus

Alle Fotos © Iko Freese

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