Das SchauspielFrankfurt zeigt Henrik Ibsens Drama „Nora“ auf eine so ungewöhnliche wie faszinierende Weise.
Um es gleich vorneweg zu sagen: diese Inszenierung von Michael Thalheimer ist eine Wiederaufnahme aus dem Jahr 2014, aber dennoch strahlt sie immer noch eine geradezu bezwingende Kraft aus. Das liegt nicht zuletzt an dem radikalen Bühnenbild und der fast schon gewagt zu nennenden Personenregie.
Wenn sich die Bühne öffnet, sieht man einen weiten und tiefen, nach hinten sich etwas verjüngenden Raum mit schwarzen Wänden – sonst nichts. Diese düstere Leere betritt Bettina Hoppe alias Nora von einem kleinen Eingang rechts an der Rampe und bleibt nach wenigen Metern dort stehen – vorne rechts auf der Bühne. Sie wird über nahezu eineinhalb Stunden diesen Platz nicht verlassen und auch ihre Körperhaltung kaum verändern. Weder großbürgerliches Interieur des ausgehenden 19. Jahrhundert noch eine Alltagshandlung mit Bewegungen und Dialogen inmitten eines solchen Ambientes sieht man, sondern nur die einzelnen, isolierten Personen, die in weiter innerer Entfernung voneinander leben. Die drei Akte des Stücks hat Michael Thalheimer zu einem einzigen verdichtet. Eine weitere Beschleunigung erreicht er durch ein hohes Sprechtempo. Diese Maßnahme stellt sich jedoch nicht als Selbstzweck zur Reduzierung der Aufführungsdauer heraus, sondern spiegelt einerseits den Druck wieder, unter dem alle Figuren stehen, und verleiht diesen andererseits etwas Maschinenhaftes, Fremdbestimmtes. Ibsens Personen sind keine frei denkenden und handelnden Individuen, sondern Teile einer in ihren Konventionen gefangenen Gesellschaft. Thorvald Helmer sieht glasklar, dass jeder Verstoß gegen die geschäftlichen Etikette – Noras Unterschriftenfälschung – mit dem gesellschaftlichen Tod geächtet wird. Seine Schwäche ist nicht diese Erkenntnis, sondern die Akzeptanz dieser Tatsache. Nora dagegen wiegt sich lange in der Illusion, dass eine solche Handlung nur aus der Motivation heraus zu beurteilen sei und daher in ihrem Falle keine Ächtung auslösen dürfe. Der Kern des Dramas spielt zwischen diesen beiden Personen, die anderen – Krogstadt, Rank und Christine Linde – dienen mehr oder minder nur der dramaturgischen Stützung der Handlung.
Dreh- und Angelpunkt dieser Inszenierung ist Nora, insofern ganz dem Titel folgend. Bezeichnenderweise lässt Michael Thalheimer auch den Zusatztitel „Ein Puppenheim“ weg, da dieser erstens eine unnötige Erklärung der Konstellation darstellt und andererseits zu Missverständnissen führen könnte. Hier geht es lediglich um die Desillusionierung von Nora, die nicht nur die mitleidlose Härte der Konventionen sondern auch die mangelnde Solidarität ihres Mannes und dessen Feigheit vor der Gesellschaft erkennen muss.
So sind auch die Dialoge auf Nora zugeschnitten. Alle anderen Personen kommen aus einer einzelnen Tür am hinteren Ende der Bühne und müssen sich jeweils auf einem langen Weg an die Hauptperson heranarbeiten. Jeder macht das auf die ihm typische Art und Weise: Noras Ehemann Thorvald (Marc Oliver Schulze) nähert sich in exaltierten, teilweise konvulsiven Bewegungen, die seine theatralische Egozentrik zum Ausdruck bringen sollen. Er nimmt sich vor allem nach seinem beruflichen Aufstieg sehr wichtig, betrachtet seine Mitmenschen als Komparsen und seine Frau als ein unselbständiges Püppchen, das man vor den Unwägbarkeiten des Lebens schützen muss. Christine Linde (Verena Bukal) bewegt sich eher huschend, als wolle sie sich verstecken, denn sie stellt nach einem Leben der Aufopferung für andere nichts mehr dar und fühlt sich wertlos. Doch auf einer anderen Ebene sieht sie auf eine Art selbstbewusster Resignation auf das Leben, da sie für etwas gelitten hat. Der Anwalt Krogstadt (Viktor Tremmel) windet sich wie eine getretener Wurm auf Nora zu, sich der Schäbigkeit seiner Erpressung voll bewusst, die er doch zum eigenen Überleben für unvermeidlich hält. Einen Rest von Anständigkeit zeigt er, wenn Christine ihm ihre Hand anbietet: geradezu erleichtert bietet er an, seinen Erpresserbrief ungelesen von Helmer zurückzufordern. Unklar bleibt jedoch, welchem dramaturgischen Zweck seine durchnässte Kleidung dient, aus denen das Wasser tropft. Der Arzt Dr. Rank (Michael Benthin) kommt als todkranker Invalide jedesmal humpelnd auf die Bühne. Er ist der großherzige Verlierer, der noch im Angesicht des Todes Haltung bewahrt. An ihm hätte Nora vielleicht den Partner gehabt, den sie sich mal ersehnt hatte, doch dazu ist es jetzt zu spät. Die anderen Personen der Handlung – Hausmädchen und Kinder – sind in dieser Inszenierung ersatzlos gestrichen.
Während die Personen um Nora herum sich in ihrer je eigenen Art auf der Bühne bewegen, bleibt Bettina Hoppe als Nora nicht nur auf demselben Fleck stehen, sondern sie verzichtet auch weitgehend auf Gestik und Mimik. Sie wirkt tatsächlich wie eine Aufziehpuppe, die zu keiner eigenen, durch Körpersprache ausgedrückten Identität findet. Dazu passt auch das blaue Kleid mit Schleife, das so auch eine Puppe tragen könnte. Wenn sie am Ende beschließt, Mann und Kinder zu verlassen, kommt dieser Entschluss aus einer grenzenlosen Enttäuschung, doch eine eigene Identität hat sie damit noch nicht gewonnen. Ob sie diese erlangt, lässt Regisseur Michael Thalheimer offen, denn Bettina Hoppe bleibt auch beim abrupten Erlöschen des Lichtes mit fast unbewegtem Gesicht stehen. Das Ende verweist in dieser Inszenierung nicht optimistisch auf eine selbstbestimmte Emanzipation sondern auf eine große Leere und Ungewissheit.
Michael Thalheimer und den Darstellern gelingt es in dieser Inszenierung, die subtilen Machtverhältnisse in den Beziehungen offenzulegen. Dabei verzichtet Thalheimer jedoch auf jegliche Schwarzweiß-Malerei. Selbst der schäbige Krogstadt handelt bei ihm aus tiefster innerer Not und ist eher ein schwaches Opfer als ein Täter. Ähnliches gilt für Noras Ehemann, der seine herablassende Art gegenüber seiner Frau als solche gar nicht erkennt, sondern im Innersten davon überzeugt ist, es mit einem Kinde zu tun zu haben, das man beschützen aber auch kontrollieren muss. Sie als gleichwertigen Partner zu akzeptieren, kommt ihm gar nicht erst in den Sinn. Diese Rolle der Frau sieht seine patriarchalische Welt nicht vor. Insofern ist auch er in gewisser Weise Opfer der Verhältnisse.
Stärke zeigen dagegen die Frauen. Nora, indem sie sich von der Bevormundung befreit und ins Ungewisse geht, und Christine, weil sie sich für ihre Verwandschaft geopfert hat und daraus Selbstbestätigung zieht, vielleicht, ohne es selbst zu merken. Außerdem schwingt sie sich zu einer aktiv handelnden Rolle auf, indem sie Krogstadt bewusst von der Rückforderung seines Briefes abhält. Sie glaubt, dass zwischen den Eheleuten Helmer endlich Ehrlichkeit einziehen muss, ungeachtet der Konsequenzen. Christines Rolle wäre eine eigene Betrachtung wert, die jedoch weder zu Ibsens Stück noch zu dieser Inszenierung gehört.
Ein spontanes, unüberhörbares „Buh“ und dagegen ein starker, einhelliger Beifall des Publikums waren die Ausbeute dieses Abends.
Frank Raudszus
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